Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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lischen Kirche im Gegensatz zum Liberalismus im 
Staat und in der Gesellschaft zu stärken. Dadurch 
ist allerdings auch der konfessionelle Gegensatz 
wachgerufen worden und an Stelle der allmählich 
eingetretenen Beruhigung eine neue Polemik gegen 
Syllabus, Vaticanum und Papsttum eröffnet 
worden. Es wird geklagt, daß die Verwerfung der 
Toleranz den deutschen Staatsverfassungen in das 
Gesicht schlage (Rönneke a. a. O. 56), daß mit 
dem Syllabus ein eigentlicher Wendepunkt in der 
Entwicklung des Katholizismus eingetreten sei 
(Sell, Die Entwicklung der katholischen Kirche im 
19. Jahrh. [1898] 83), daß mit der Enzyklika 
von 1864 ein Kampf gegen das gemeinsame Be- 
wußtsein und Rechtsgefühl der heutigen Kultur- 
völker und gegen die daraus erwachsenen Insti- 
tutionen inauguriert worden sei („Janus" S. 271). 
Der Syllabus wird als die Grundlage der heute 
geltenden Theorie vom normalen Verhältnis der 
Kirche zum Staat bezeichnet und mit Sybel 
behauptet: „Der Leichtsinn oder die Unkennt- 
nis, womit die Staatsgewalten Europas diese 
unumwundene Erklärung der päpstlichen Omni- 
potenz unbeachtet ließen, hat wenig Seitenstücke 
in der Geschichte“ (Kolde, Der Katholizismus 
und das 20. Jahrh. 119031 55). Nach Hoens- 
broech (Der Syllabus, seine Auktorität und Trag- 
weite [1904] 3) ist der Syllabus „die direkte 
Machtentfaltung des Papsttums auf die nicht zur 
Religion gehörigen weltlich-profanen Gebiete, die 
amtliche Kriegserklärung gegen den modernen 
Staat, gegen die moderne Wissenschaft, gegen die 
gesamte moderne Kultur, soweit sie auf Geistes- 
freiheit beruht, die amtlich verbriefte und besiegelte 
Verquickung in dem Sinn, daß die Politik im 
weitesten Sinn des Worts der Religion unter- 
worfen ist“. L. Götz (Der Ultramontanismus als 
Weltanschauung auf Grund des Syllabus quellen- 
mäßig dargestellt (1905) 55) endlich bezeichnet 
den Syllabus als die autoritativ jeden Katholiken 
binden sollende Zusammenfassung der ultramon- 
tanen Theorien auf einer Reihe von Gebieten, als 
das jedem Katholiken von maßgebendster Seite 
warm empfohlene System der ultramontanen Welt- 
anschauung, besonders auf dem Gebiet des Ver- 
hältnisses von Staat und Kirche und in den da- 
mit zusammenhängenden Kulturfragen, als das 
Schema von Theorien, nach denen die moderne 
bürgerliche und staatliche Gesellschaft im ultra- 
montanen Sinn rekonstruiert werden soll. Und 
wie andere katholikenfeindliche Autoren ereifert er 
sich u. a. (S. 253) besonders gegen Satz 77 und 
78, wonach keine Regierung denen, die nicht katho- 
lisch seien, wie groß auch ihre Zahl und wie po- 
litisch begründet ihr Recht sein möge, freie Reli- 
gionsübung gestatten dürfe, daß vielmehr die 
katholische Religion überall die herrschende Staats- 
religion mit Ausschluß aller andern Bekenntnisse 
entweder bleiben oder wieder werden müsse, wobei 
er sich auf Döllinger beruft. Davon aber tut 
Göt nicht die leiseste Erwähnung, daß Leo XIII. 
Syndikate. 
  
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in seiner Enzyklika „Immortale Dei“ vom 1.Nov. 
1885 erklärt, daß, wenn einmal in einem Staat 
mehrere Konfessionen tatsächlich und mit bestimm- 
ten Rechten vorhanden seien und ohne zu befürch- 
tende größere Übel nicht mehr beseitigt werden 
könnten, die Kirche die Regierungen nicht tadle, 
welche duldeten, daß verschiedene Religionen im 
Staat beständen, mit welcher Erklärung der 
status qduo in allen konfessionell gemischten 
Staaten anerkannt ist. Vgl. dazu Art. Parität 
(Bd III, Sp. 1575 ). 
Je bedrohlicher die Gefahren, welche das 
20. Jahrh. der europäischen Gesellschaft ankündigt, 
sich gestalten, je schroffer die modernen Kirchen- 
rechtslehrer die Staatsomnipotenz verteidigen, desto 
deutlicher wird sich die Wahrheit und Vorsicht in 
den grundlegenden Sätzen des Syllabus heraus- 
stellen. Uber Formen und Außerlichkeit, über Wesent- 
liches und Geschichtliches und Vorübergehendes 
kann man streiten, aber die Grundsätze der Wahr- 
heit und des Rechts müssen bestehen bleiben. 
V. Der „neue Syllabus“. Man nennt bis- 
weilen das Dekret der Inquisition „Lamentabili 
sane exitu“ vom 3. Juli 1907 den neuen Syl- 
labus, aber ohne jede Begründung, denn der offi- 
zielle Titel des Schriftstücks heißt nicht Syllabus, 
sondern Dekret. Sodann enthält dieses Dekret 
bis Satz 38 fast ausschließlich biblische und her- 
nach bis Satz 64 „meist dogmatische Irrtümer 
über die Sakramente im allgemeinen und beson- 
dern", über die Verfassung der Kirche (Satz 52/(56), 
über Fortschritt, Wahrheit und christliche Wahr- 
heit. Also hat das Dekret „Lamentabili sane 
exitu“ so gut wie keine innere Verwandtschaft mit 
dem alten Syllabus, der vor allem über das Ver- 
hältnis von Kirche und Staat handelt (vgl. Heiner, 
Der neue Syllabus oder Dekret des Heiligen Offi= 
ziums „Lamentabili“ vom 3. Juli 190711908); 
Michelitsch, Der biblisch-dogmatische „Syllabus“ 
Pius'X. samt der Enzyklikagegen den Modernismus 
und dem Motu proprio v. 18. Nov. 1907121908l. 
Literatur (soweit nicht schon angeführt): Acta 
Pü PP. IX. (Rom 1854,74); Acta Pür IX., ex 
quibus excerptus est S. (ebd. 1865); Discorsi 
del Sommo Pontifice Pio IX. (1871/78). Dal 
P. Don Pasquale (Rom 1874/78); Die Enzyklika 
Papst Pius' IX. vom 8. Dez. 1864, in Stimmen 
aus Maria-Laach I/XII (1865/69); Die Enzyklika 
Er Heiligkeit des Papstes Pius IX. vom 8. Dez. 
1864 u. der S., nebst einer ausführlichen Einlei- 
tung vorzüglich zur Erläuterung der kirchlich-poli- 
tischen Thefen (21865); Vieville, Le S. commenté 
d’après les actes des Souverains Pontifes, I’en- 
seignement des Gveques, la théologie, le droit 
canon, I bistoire, les doctrines des publicistes 
d'opinions diverses (Par. 1879); Schippers, Abend- 
unterhaltungen über den S. (1880); Stazzuglia, 
Vindiciac Syllabi PülX. (Neapel 1898); Hourat, 
Le S. Etude documentaire (Par. 21904); Viollet, 
L# infaillibilité du Pape et le S. (ebd. *1905); 
Infaillibilité et S. (ebd. 1905; auf Index). 
lSchanz, rev. Sägmüller.] 
Syndikate s. Kartelle.
	        
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