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Tarifverträge. 1. Geschichte und Be-
deutung. Wie in der Gewerbewelt auf die
zünftige Gebundenheit eine regellose Konkurrenz
folgte, um in neuester Zeit Ansätzen fakultativer
Reglung des Wettbewerbs durch Kartelle, Syndi-
kate usw. Platz zu machen, so machte auch der Ar-
beitsvertrag die Stadien der Normierung durch
die Zunftobrigkeit und der vollständigen Preis-
gabe an das Individuum durch. Seit Mitte des
19. Jahrh. macht sich die Reaktion gegen die ver-
wüstenden Folgen des Individualismus geltend,
und als erste in unserem deutschen Vaterland be-
mühen sich seit 1848 die Buchdrucker, durch kor-
porative Vereinbarungen der Einzelheiten des
Arbeitsvertrags mehr Stabilität in die Arbeits-
verhältnisse und mehr Gleichmäßigkeit in die Lohn-
ausgaben der Prinzipalität zu bringen. Gehilfen
und Druckherren zügeln die natürliche Begierde
nach ungehemmt freiem Verfolgen ihres momen-
tanen Privatvorteils und unterwerfen sich tariflichen
Normen, um Lohndruck und Schleuderkonkurrenz
zum Wohl der einzelnen und des ganzen Gewerbes
zu bekämpfen. Seit jener Zeit ist der Gedanke des
korporativen, d. h. von organisierter Partei zu or-
ganisierter Partei abgeschlossenen Arbeitsvertrags
nie völlig vergessen worden. Wo immer sich an
einem Ort, in einem bestimmten Beruf die indi-
vidualistische Willkür abgewirtschaftet hatte, so vor
allem in den graphischen Gewerben, da erkannten
Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Notwendigkeit
einer zemeimatgen Lohnpolitik beider Parteien,
die Stabilität statt Planlosigkeit bringen sollte.
Osft, so besonders im Baugewerbe, war es zunächst
weniger der Drang nach gewerblicher Ordnung
als das beiderseitige Friedensbedürfnis, was An-
laß zur Tarifierung der Arbeitsbedingungen gab.
In den einzelnen Bauberufen haben sich die Par-
teien meist erst müde gestreikt und ausgesperrt, bis
sie den Weg zur paritätischen Verständigung suchten
und fanden. Dabei erfuhr man allerdings zur!
Genüge, daß auch der korporativ abgeschlossene
Friede nur für die Vertragszeit garantiert, dann,
aber wiederum gefährdet war. So haben sogar
die Buchdrucker, die seit Anfang der 1870er Jahre
sast ununterbrochen unter tariflichen Normen ge-
arbeitet haben, manch heiße Kämpfe bei der
Wiedererneuerung abgelaufener und der Bildung
neuer Tarisverträge durchgemacht. Noch mehr
kampfbewegt mag die Tarifentwicklung in jenen
Berufen gewesen sein, deren Eigenart die Ver-
tragseinhaltung erschwert, sei es daß der Klein-
oder Zwergbetrieb, vielleicht sogar, wie in der Be-
kleidungsindustrie, die völlig unkontrollierbare
Hausindustrie auf die Lohnbildung miteinwirkt, sei
es daß der Konjunkturwechsel und der Wandel der
Technik rascher vor sich geht als die Anpassung
beider Parteien an neue Schwierigkeiten. Immer-
hin hat sich im Lauf eines halben Jahrhunderts
tarifvertraglichen Experimentierens erwiesen, daß
die Vereinbarungen, wenn sie sorgfältig getroffen
und mit Energie aufrechterhalten wurden, manchen
allgemeinen Mißständen im Gewerbe, vor allem
den Auswüchsen der Schmutzkonkurrenz steuerten,
und ihr heilsamer Einfluß auf die Kalkulation der
Unternehmer und auf die Lebenshaltung der Ar-
beiter trat mehr und mehr zutage.
Was sich aber stets dem Siegeslauf der Tarif-
gemeinschaften entgegenstellte, das war der Abso-
lutismus der Unternehmer und der Revolutionaris-
mus der Arbeiter; die einen überspannten in ge-
meinschädlicher Weise ihre Auffassung von der
notwendigen Autorität, zogen nicht die richtige
Grenzlinie zwischen der unerläßlichen Disziplin
der Untergebenen und den Mitbestimmungsrechten
freier Arbeiter; die andern hatten recht unklare und
unentwickelte Ansichten über ihre Stellung zur
bürgerlichen Gesellschaft, zum gewerblichen Privat-
betrieb, über ihre eignen Rechte. So stieß der erste
Korporativvertrag fast überall auf heftigen Unter-
nehmer-, oft auch auf starken Arbeiterwiderstand.
So wenig wie der polilische hat sich der gewerb-
liche Konstitutionalismus ohne langwierigen und
bittern Kampf durchführen lassen. Dem Ringen
mit der Gegenpartei, die man zuerst bedingungs-
los unterwerfen wollte, und die man doch endlich
als gleichberechtigt anerkennen mußte, folgte der
vielleicht härtere Kampf gegen die Neigungen und
Gewohnheiten des eignen Ich, den jeder einzelne
Industrielle und Handwerker, jeder an Ungebunden-
heit gewöhnte Arbeiter und folgerichtig auch jede
Organisation der Interessengenossen aufzunehmen
hatte. Während so allmählich die reformeifrigsten
Handwerkerorganisationen und fortschrittlichsten
einzelnen Meister die paritätische Mitbestimmung
der Gesellen als notwendig und nutzbringend aner-
kannt haben, sträubt sich die Großindustrie im Be-
wußtsein ihrer Kapitalüberlegenheit noch fast aus-
nahmslos gegen eine Mitbestimmung der Arbeiter
bei Festsetzung der Arbeitsbedingungen. Groß-
mächtige Syndikate werden wohl mehr und mehr
versuchen, auch bezüglich der Lohnfrage die Einzel-
betriebe dem Korporationseinfluß zu enterwersin.
gerade sie aber wollen eine einseitige, vom Arbeit-
geber geschaffene, nicht eine mit dem Arbeiter und
seiner Organisation vereinbarte Ordnung. Bei
den Arbeitern ist aber das Rechtsbewußtsein bereits
so weit fortgeschritten, daß sie als Besitzer der Ar-
beitskraft ihre Vermieterrechte betonen und als
Bürger des Rechtsstaats einem Herabdrücken ihrer
Persönlichkeit zur bloßen Ware entschieden gegen-
Übertreten. Daraus erklärt sich wohl, daß trotz
mancher prinzipiellen Hindernisse die stärksten Ge-
werkschaftsgruppen in Deutschland, die sozialdemo-
kratischen, in der Praxis und sogar in der Theorie