387 Tatsachen,
Pflichten beruht auf der Anerkennung Gottes als
des Urhebers und Endziels aller Dinge, als höch-
sten Gesetzgebers und Richters aller Menschen.
Die moderne Weltanschauung, welche die Existenz
eines persönlichen, überweltlichen Gottes entweder
rundweg ableugnet oder doch als eine noch nicht
genügend gelöste Frage der Wissenschaft betrachtet,
daher von Gott als einem ganz unsichern Faktor
absehen zu müssen glaubt, mußte notwendig zur
Leugnung natürlicher Rechte und natürlicher
Pflichten voranschreiten. Da aber die Anschau-
ungen wie von der Sittlichkeit, so auch vom Recht
von Gott zu tief in Geist und Herz der Menschen
eingeschrieben sind, als daß man sie einfach igno-
rieren könnte, so erfand die ungläubige Wissen-
schaft die Theorie vom positiven Ursprung aller
sittlichen Pflichten und aller Rechte. Die gegen-
seitigen Beziehungen der Untertanen eines Staats
werden durch die positiven staatlichen Gesetze ge-
regelt, über welche hinaus die liberale Wissenschaft
keine wirklichen Pflichten und Rechte anerkennt.
Schwieriger gestaltet sich für sie das Problem von
den Beziehungen der einzelnen Staaten zueinan-
der. Leugnet man das Naturrecht, dann kann
man auch das Völkerrecht in nichts anderem als
in Abmachungen der Staaten untereinander, die
heute festgesetzt und übers Jahr wieder aufgehoben
werden können, bestehen lassen. Auch auf dem
Gebiet des Völkerrechts hat die Theorie vom po-
sitiven Ursprung des Rechts die Oberhand ge-
wonnen, obwohl Hugo Grotius, den man gern
als Vater der Völkerrechtswissenschaft ausgibt, die
Grundlagen derselben dem Naturgesetz entnimmt.
„Der Sieg hat sich unzweifelhaft den Positivisten
zugewandt; heutzutage wird unter Völkerrecht
nur ein positives Recht verstanden“ (Gareis, In-
stitutionen des Völkerrechts (1888] 19).
Zu welchen Abirrungen man gelangen kann,
wenn man den Boden der Ethik und des christ-
lichen Naturrechts verläßt, beweist auch die Theorie
der „vollendeten Tatsachen“. Sie besagt weniger,
daß jeder Erfolg eines Staats, sei es den eignen
Untertanen, sei es einem andern Staat gegenüber,
schon Anspruch auf Anerkennung seitens der
übrigen Staaten habe; mit Recht wird nämlich
diese Forderung als Extrem der Theorie der „voll-
endeten Tatsachen“ bezeichnet. Sie behauptet
vielmehr, der eine Staat könne, wo das eigne
Interesse oder Recht nicht in Mitleidenschaft ge-
zogen wird, alles seitens des andern Staats ge-
schehen lassen, und was geschehen ist, bestehen
lassen, obwohl es in seiner Macht stände, einzu-
greisen und das zugefügte Unrecht aufzuheben.
Die Theorie der „vollendelen Tatsachen“ läßt
sich deshalb als Ubertragung des für das Privat-
erwerbsleben als Prinzip aufgestellten Indivi-
dualismus auf die völkerrechtlichen Beziehungen
der Staaten untereinander bezeichnen.
Gegen die Theorie der „vollendeten Tatsachen“
wendet sich die von Pius IX. vorgenommene Ver-
urteilung der drei Sätze: In ordine politico facta
vollendete. 388
consummata eo ipso, quod consummata sunt,
vim iuris habere. (In der Politik haben die
vollendeten Tatsachen dadurch schon, daß sie voll-
endet sind, rechtliche Gültigkeit. Enzyklika „Quanta
cura“ vom 8. Dez. 1864.) Fortunata facti in-
iustitia nullum iuris sanctitati detrimentum
affert (Eine vom Glück mit Erfolg gekrönte Un-
gerechtigkeit tut der Heiligkeit des Rechts keinen
Eintrag. Syllabus 8 61). Mit diesen Sätzen
wird das Extrem dieser Theorie verurteilt. Die
Verurteilung des Satzes Proclamandum est et
observandum principium quod vocant de non-
interventu (Man muß sich zu dem Grundsatz der
sog. Nichtintervention bekennen. Syllabus § 62)
trifft das Prinzip selbst.
Nach den Grundsätzen der natürlichen Sitt-
lichkeit und des Rechts, die sich aus dem christ-
lichen Glauben an Gott herleiten, zu dessen An-
schauung und Besitz alle Menschen zu gelangen
bestimmt sind und einander durch Beobachtung
aller göttlichen Gesetze behilflich sein müssen, bildet
die ganze Menschheit eine große Familie. Und
wie die einzelnen Menschen, so sind auch die von
ihnen aus was immer für einem Grund und zu
was immer für einem Zweck gebildeten Vereini-
gungen, also auch die Staaten, durch naturgesetz-
liche Bande untereinander verknüpft. Die Rechte
und Pflichten, welche die Staaten einander gegen-
über haben, sind im wesentlichen jenen gleich,
welche Privatpersonen einander gegenüber haben.
„Diese Pflichten sind dieselben, welche als in der
sittlichen Natur des Menschen begründet, über-
haupt unter den Menschen, insofern als sie auf die
Eigenschaft als sittliche Wesen Anspruch machen,
stattfinden, nämlich die Pflicht der Gerechtigkeit
und des Wohlwollens. Diese Pflichten sind auch
an und für sich von dem Verhalten der andern
Staaten unabhängig. Der Staat und seine An-
gehörigen üben sie um ihrer eignen sittlichen Natur
willen, also aus Gewissen, aus Pflicht gegen sich
selbst und gegen den göttlichen Willen“ (Walter,
Naturrecht und Politik 346). Gewiß sind die
Staaten nicht physische Einheiten wie die Einzel-
menschen, sondern moralische oder juristische. Aber
die Staaten bestehen zum Nutzen und zum Wohl
der Untertanen, und darum sind die Rechte und
Pflichten der Staaten im Grunde genommen
NRechte und Pflichten der Staatsangehörigen, und
die Verletzung derselben gereicht den Untertanen
jum Schaden. Wie die Einzelmenschen unter Um-
ständen eine heilige Pflicht haben, des Nächsten
sich anzunehmen, so dürfen auch die Staaten nicht
einfachhin alles geschehen lassen, was von andern
Staaten geschieht; sie dürfen auch nicht das ein-
mal Geschehene einfachhin bestehen lassen, wenn
sie imstande sind, es wieder aufzuheben.
Nur einige der Hauptregeln für die inter-
nationalen Beziehungen der Staaten seien hier
ausdrücklich angegeben. 1. Gewiß ist im allge-
meinen festzuhalten, daß die einzelnen Staaten
voneinander unabhängig sind und der eine Staat