389 Tatsachen,
sich in die Angelegenheiten eines andern oder in
Fragen, die zwischen zwei Staaten obschweben,
ohne besondern Grund nicht einmischen darf. Wie
ein einzelner nur aus ganz besondern Gründen in
die Angelegenheiten seines Nebenmenschen ein-
greifen darf und im Fall einer Zwistigkeit zwischen
zweien demjenigen, der recht hat, seine Hilfe wohl
anbieten kann, aber nicht aufdrängen soll, so sollen
auch die Staaten untereinander verfahren. Ein
Staat darf nicht deshalb, weil er größer und mäch-
tiger ist als andere um ihn, sich als deren Vor-
mund betrachten und ihre Selbständigkeit beein-
trächtigen. Auch ein Bund, den mehrere mehr
oder weniger mächtige Staaten untereinander ein-
gehen zur Bevormundung der andern und zur
Einmischung in deren Angelegenheiten, um diese
im eignen Sinn und Interesse zu beeinflussen, ver-
stößt gegen die jedem einzelnen Staat zustehende
Selbständigkeit und Unabhängigkeit von andern.
2. Ein Staat darf nie intervenieren, auch wenn
er darum gebeten wird, zugunsten eines Unrechts.
Wie im Privatleben die Hilfeleistung zu einer
Ungerechtigkeit unerlaubt und sträflich ist, so darf
auch in keinem Fall ein Staat eine Ungerechtig-
keit, die von einem andern Staat wem immer ge-
schieht, auf irgend eine Weise unterstützen. Es ist
hier selbstverständlich nicht der Ort, auf einzelne
Fälle einzugehen, und daher auch nicht, jene manch-
mal schwierigen und heikeln Fragen zu erörtern,
mit denen sich die gläubige Völkerrechtswissenschaft
auch schon vor Hugo Grotius und unabhängig
von ihm früher viel beschäftigte. Bekanntlich haben
die Behauptungen der katholischen Völkerrechts-
lehrer seitens der „unabhängigen Wissenschaft"“
vielen Widerspruch gefunden. Der Grund liegt
zum guten Teil darin, daß katholische Gelehrte
weder an der Staatsomnipotenz festhalten noch
auch nur lehren können, daß alle Rechte vom
Staat kommen, und ähnliches. Damit hängt
dann zusammen, daß die gläubige Wissenschaft
ganz bestimmte Regeln über die Grenzen des
staatlichen Gehorsams aufstellt.
3. Besteht über das Recht kein Zweifel, dann
kann es derjenigen Partei, deren Recht von einem
andern Staat oder vielleicht von der eignen Staats-
gewalt verletzt wird, im allgemeinen nicht ver-
wehrt sein, eine fremde Macht um ihre Inter-
vention zu bitten. Gewiß muß sie sich diese Bitte
aber wohl überlegen, und nur aus wirklich zwin-
genden Gründen darf sie auswärtige Hilfe suchen.
„Denn fremde Intervention gereicht dem eignen
Staatswesen vielfach nicht zur Ehre und zieht
auch sonst unter Umständen mannigfache üble
Folgen nach sich. Auch soll nur jene Macht um
Hilfe gebeten werden, die vollkommen verläßlich
ist bezüglich ihrer Rechtlichkeit und die Be-
dingungen, unter welchen ihre Hilfeleistung an-
genommen ist, genau einhält. Die Intervention
aber unter allen Umständen verbieten und den
Sieg des Rechts einfach von der Zeit erwarten,
dagegen sträubt sich ebensowohl die Vernunft als
vollendete. 390
die Erfahrung“ (vgl. Bluntschli, Staatswörtei-
buch V 351).
4. Dagegen wird man festhalten müssen, daß
für einen Staat auch dann, wenn gar kein
Zweifel besteht, daß der seine Intervention nach-
suchende Teil im Recht ist, viel seltener eine Pflicht
der Hilfeleistung behauptet werden kann, als ein
einzelner verpflichtet ist, seinem Nebenmenschen
Hilfe zu leisten. Der Grund hierfür liegt darin,
daß die tatsächliche Intervention zumeist mit vielen
Opfern für den intervenierenden Staat verbunden
ist. Viele Opfer aber für einen andern zu bringen
ist man nur dann verpflichtet, wenn es sich um
eine sehr große Not dieses andern handelt und er
sich selbst in keiner Weise helfen kann. Daraus
geht schon hervor, daß zur Intervention auf dem
lediglich diplomatischen Weg durch Bitten, durch
Einsetzen der eignen Autorität, durch Entziehung
gewisser Begünstigungen usw. allerdings leichter
eine Pflicht vorhanden ist. Tatsächliche Inter-
ventionen aber können leicht zu weittragenden und
langwierigen Verwicklungen führen, so daß viel-
sach schon wegen der Gefahr derartiger Folgen
keine Pflicht besteht, der Bitte um Intervention
Folge zu leisten.
5. Wenn sich nun auch gar nicht leugnen läßt,
daß eine Pflicht, zu intervenieren, im ganzen selten
vorhanden ist und daher ein Staat vielfach in die
Lage kommt, das Unrecht, das in einem fremden
Staat geschieht oder das diesem von einem dritten
zugefügt wird, einfach geschehen lassen zu müssen,
o ist doch das Prinzip der „vollendeten Tat-
achen“ als Ausdruck der Anschauung, es brauche
ich ein Staat um das, was die andern tun, nicht
zu kümmern und könne die internationalen Tat-
sachen ohne Unterschied, ob sie auf rechte oder un-
rechte Weise zustande gekommen sind, als voll-
zogen einfach hinnehmen, wie schon bemerkt wurde,
gänzlich zu verwerfen. Als Theorie von der
„Völkerrechtswissenschaft“ aufgestellt, beweist es
die vollständige Unfähigkeit dieser „Wissenschaft“
zur Aufstellung solcher Regeln, welche dem un-
auslöschlichen Rechtsbewußtsein jedes Menschen
irgendwie gerecht werden. In die völkerrechtliche
Praxis eingeführt, wird die Theorie die Grund-
lage, auf welcher die Staaten selbst aufgebaut
sind, schädigen; diese Grundlage ist eben das all-
gemeine Rechtsbewußtsein (iustitia regnorum
fundamentum). Es besteht unter Umständen eine
heilige Pflicht nicht nur zu diplomatischen Inter-
ventionen, wie sie oben charakterisiert wurden,
sondern auch zu tatsächlichen, die in Unterstützung
mit Geld, mit bewaffneter Macht und ähnlichem
bestehen. So kann ein großer, mächtiger Staat,
der über viele Mittel verfügt, leicht verpflichtet
sein, dem sichern Unrecht, das einem kleineren
Staat droht, vorzubeugen, oder wenn Drohungen
nicht helfen, den ungerechten Störenfried energisch
in die rechten Schranken zu verweisen. Kleinere
Staaten sind naturgemäß den größeren gegen-
über, die sich Ungerechtigkeiten gegen andere er-
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