Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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einem geistigen Bildungsmittel hatte sich das 
Drama damals eben noch nicht entwickelt, und 
an anderweitigen Bildungsmitteln war kein 
Mangel. 
Das neuere Theater, wie es sich seit dem 
16. Jahrh. unter dem Einfluß der Renaissance- 
bewegung erst in Italien, Spanien und Portugal, 
dann in England und Holland, später in Frank- 
reich und zuletzt in Deutschland zu klassischer 
Kunstvollendung entwickelte, lehnt sich zum Teil 
an die Kunsttheorien der Alten, hat sich aber auch 
zum Teil unabhängig von denselben oder wenig- 
stens in freierer Weise ausgestaltet. Zur höchsten 
religiös-sittlichen Weihe hat es sich in Spanien 
aufgeschwungen; von den Engländern hat nur 
Shakespeare die Originalität, Selbständigkeit und 
den Reichtum der spanischen Bühne übertroffen. 
Eine engherzige Interpretation der antiken Kunst- 
theorie hat die französische in ihrer glänzendsten 
Periode an freier Entwicklung gehindert. Die 
klassische Bühne der Deutschen hat sich an den 
Meisterwerken der Alten wie an jenen der neueren 
Völker zu hoher ästhetischer wie technischer Voll- 
kommenheit entwickelt; unter dem Einfluß des 
Rationalismus und des modernen Unglaubens 
hat sie indes nie jene hohe religiöse und sittliche 
Bedeutung gewonnen wie die altgriechische Tra- 
gödie oder die religiöse Bühne der älteren Spanier. 
Indem eine vom Christentum emanzipierte Asthe- 
tik die Losreißung der Kunst überhaupt von der 
Religion proklamierte, versuchte sie vielfach das 
Theater als ethisch-ästhetische Bildungsanstalt an 
die Stelle der Kanzel und des Gottesdienstes zu 
stellen und gab damit das Theater den verhäng- 
nisvollen Einflüssen preis. Indem man unerfüll- 
bare Forderungen an dasselbe stellte, sank es mehr 
und mehr, wenn auch mit ehrenwerten Ausnah- 
men, auf das Niveau eines bloß ästhetischen Ge- 
nusses oder gar auf das einer lüsternen Ohren- 
und Augenweide herab. 
Es liegt auf der Hand und wird durch die Ge- 
schichte des Theaters reichlich bezeugt, daß das 
Theater für sich Religion und Kirche nicht zu er- 
setzen vermag. Tiefere religiös-sittliche Wirkungen 
kann es nur dann ausüben, wenn ein mächtiges 
Glaubensleben im Volk pulsiert und die drama- 
tische Dichtung beseelt. Unerläßliche Vorbedingung 
für eine höhere ideale Bedeutung ist natürlich, daß 
das Theater wenigstens den Forderungen des 
Sittengesetzes entspricht. Fern bleiben muß der 
Bühne alles, was den christlichen Glauben, die 
Ehrfurcht vor der Kirche und ihren Institutionen, 
die bürgerliche Autorität und deren Ansehen, den 
sittlichen Bestand der Familie untergräbt. Fern 
bleiben muß der Bühne nicht nur alles, was man 
irgendwie mit dem Namen Unzucht bezeichnen 
kann, sondern auch, was irgendwie dazu provo- 
ziert. Fern bleiben muß der Bühne jener wollüstige 
Sensualismus, der, wenn auch unter glatten, 
scheinbar anständigen Formen, in der Stoffwahl 
wie in der poetischen Behandlung, in der Aus- 
Theater. 
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stattung wie in der Aufführung selbst nur die Er- 
regung der sinnlichen Lüsternheit anstrebt. Ganz 
lassen sich allerdings die Verwicklungen, welche die 
mächtigste aller Leidenschaften im Menschenleben 
herbeiführt, nicht von der Bühne verbannen; doch 
zahlreiche Meisterwerke der dramatischen Kunst 
(sowohl der Alten als Shakespeares, Calderons 
usw.) zeigen, daß sich auch diese Motive so be- 
handeln lassen, daß sie einem gereisten Publikum 
nicht zum Anstoß oder Schaden gereichen. Ein 
wahrhaft künstlerischer Realismus wird sich nie 
ausschließlich auf die Schattenseite des Menschen- 
lebens werfen, sondern ihr stets das Gute, Edle 
und Erhabene, was im Menschen lebt, gewinnend 
und siegreich gegenüberstellen. Ein wahrhaft 
künstlerischer Idealismus aber wird weit über die 
realistische Nachahmung des Alltagslebens hinaus- 
streben und die höchsten, edelsten Bestrebungen der 
Menschheit in der dramatischen Handlung geltend 
zu machen wissen. 
Während Luther theatralische ÜUbungen an den 
Schulen befürwortete, nahmen die Calvinisten, 
Puritaner und andere protestantische Sekten eine 
durchaus feindselige Stellung zum Theater ein, 
ebenso später die Jansenisten. Angesichts der Miß- 
stände und Gefahren, welche das neue Theater 
mit sich brachte, hat auch unter den Katholiken 
eine Richtung um sich gegriffen, welche dem Theater 
überhaupt entweder feindlich oder wenigstens ab- 
lehnend gegenübertrat. Die schroffen Angriffe 
Marianas und Bossuets auf das Theater sind 
indes als einseitig und übertrieben abzuweisen. 
Die katholischen Höfe haben sich vom 16. Jahrh. 
an durch ähnliche Angriffe nicht darin beirren 
lassen, die Schauspielkunst im großen Maßstab zu 
pflegen, und die Jesuiten haben an ihren Schulen 
durch eifrige Pflege der Schulbühne dasselbe ge- 
tan. Kann auch, beim heutigen Stand der meisten 
Bühnen, der Theaterbesuch nicht allenthalben und 
jedermann unbeschränkt empfohlen werden, so 
würde es doch bei weitem richtiger und frucht- 
reicher sein, durch Pflege und Förderung guter 
Theater die Schauspielkunst ihrem wahren Ziel 
zuzuführen, als durch bloße Abwehr und Absti- 
nenz den Mißbrauch der Kunst teilweise zu hin- 
dern oder einzuschränken und das Theater selbst in 
weitem Umfang feindseligen Kreisen zu überlassen. 
3. Rechtliche Bestimmungen. a) Das 
öffentliche Theaterrecht. Wie die Schauspiel- 
kunst, ideal aufgefaßt, maßvoll betrieben und in 
sittlichen Schranken gehalten, das geistige Leben 
fördern und heben kann, so ist der Mißbrauch des 
Theaters, das lehrt die Geschichte, mit nicht ge- 
ringen sittlichen und politischen Gefahren ver- 
bunden. Denselben haben sich durch das starke 
Anwachsen und den gewerbsmäßigen Betrieb der 
Privatbühnen auch wirtschaftliche zugesellt. Um 
diesen Gefahren zu steuern, hat die Gesetzgebung 
oder Verwaltung der neueren Staaten das Theater 
in doppelter Weise eingeschränkt, indem sie a) den 
Betrieb derselben von einer vorherigen staatlichen 
 
	        
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