Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

413 Theokratie. 414 
gesetzlich festgelegte Vergünstigungen anderer Reli- 
gionsparteien zu halten seien, und daß eine päpst- 
liche Entbindung von dieser Verpflichtung gar 
die innern Bewegungen in Schutz zu mehmen 
(L. v. Ranke, Englische Geschichte 1 I/1877149). 
Für den hierokratischen Charakter kann der Um- 
stand sprechen, daß Innozenz die Kassation vor- nicht eintreten könne. (An diese „stete“ Lehre der 
nimmt ex parte dei omnipotentis, patris et Theologen, unter spezieller Namhaftmachung des 
filil et spiritus sancti, auctoritate qduoque 1 hochangesehenen Laymann S. J. lgest. 16351, er- 
beatorum Petri et Pauli apostolorum eius innert bei Besprechung des päpstlichen Protestes 
ac nostra. Diese Worte sind zu beachten, auch Döllinger, Kirche und Kirchen S. 60; Hergen- 
wenn man dieselben mehr als Kurialformel auf= röther, Katholische Kirche und christlicher Staat 
zufassen geneigt ist (weitere Literatur bei Mirbt (1872) 709; dazu A. 4, u. S. 642; Martens, 
a. a. O. 136, Nr 226). Die Beziehungen der Uberordnung, Nebenord- 
Als weiteres Beispiel hierokratischer Kassation nung und Unterordnung zwischen Kirche und 
staatlicher Gesetze und Akte wird in Politik und Staat (18771 346, wo die Ansicht Bischofs 
Schule viel genannt die Bulle „Zelus Domus v. Ketteler angeführt wird.) 
Dei“ vom 26. Nov. 1648, in welcher Papst In-- Ein anderer in die neueste Zeit hereinragender 
nozenz X. gegen den Westfälischen Frieden Fall hierokratischer Kassation staatlicher Gesetze be- 
protestierte (Text bei Mirbt a. a. O. Nr 367). trifft Osterreich bzw. das österreichische Staats- 
Ohne Zweifel hatte der Papst Recht und Pflicht, grundgesetz vom 21. Dez. 1867 und die öster- 
gegen eine Reihe von Bestimmungen des Friedens= reichischen Ehe- und Schulgesetze von 1868. Diese 
schlusses Einspruch zu erheben; es heißt, wie Funk 1 wurden von Papst Pius IX. in der Allokution 
(Lehrbuch der Kirchengeschichte Is 1898 452) mit vom 22. Juni 1868 für ungültig erklärt (comme- 
Recht betont, seine Stellung als Oberhaupt der moratas leges — reprobamus, damnamus et 
Kirche geradezu verkennen, wenn ohne weiteres decreta ipsa irrita prorsus nulliusque roboris 
dieser Protest dem Papst zum Vorwurf gemacht fuisse ac fore declaramus. Text der Ansprache 
wird. Auf der andern Seite mag man aber doch im Archiv für katholisches Kirchenrecht XX 170 
darüber streiten, ob nicht über einen Protest hin- 
aus eine hierokratische Kassation des Friedens- 
schlusses in der Bulle ausgesprochen ist (daß näm- 
lich alle den Katholiken ungünstigen Bestimmungen 
ipso ijure nulla, irrita, invalida, iniqua, in- 
iusta, damnata, reprobata, inania viribusque 
et effectu vacua omnino fuisse et esse et 
berpetuo fore); jedenfalls ist direkt erklärt, daß 
niemand die der katholischen Kirche abträglichen 
Zugeständnisse an die Protestanten zu halten ver- 
pflichtet sei, selbst wenn er durch einen Eid dazu 
sich verbunden habe. Sei dem nun, mit dem 
Charakter der Bulle „Zelus Domus Dei“, wie dem 
wolle, entscheidend ist für uns, welche Freiheit die 
Katholiken gegenüber diesem päpstlichen Urteil sich 
gewahrt haben und unbeschadet ihrer kirchlichen 
Pflichten sich wahren konnten. Und da steht zu- 
nächst fest, daß kein katholischer Fürst jemals die 
Gültigkeit des westfälischen Friedensspruchs mit 
Berufung auf die Erklärung des Papstes in Frage 
gestellt hat. Daß diejenigen Theologen, die als 
Ratgeber katholischer Fürsten für den Friedens- 
schluß gewirkt hatten, angesichts des päpstlichen 
Protestes vorübergehend in eine schiefe Lage 
bis 172; die einschlägigen Stellen bei Mirbt 
a. a. O. 371. Nr 432; vgl. dazu die kurze Zeich- 
nung der Situation bei Scherer a. a. O. I 1, 
817, Nr 5, S. 103/104; Martens, Die Be- 
# ziehungen der ÜUberordnung, Nebenordnung usw. 
346, 391 ff). Gewiß konnten vorübergehend die 
österreichischen Katholiken durch die Ansprache in 
eine schiefe oder doch sehr schwierige Stellung 
kommen; das gilt auch von dem damaligen kirch- 
lichen und kirchenpolitischen Führer der österreichi- 
schen Katholiken, dem Kardinal Rauscher, Fürst- 
erzbischof von Wien (vgl. die Antwort des Kar- 
dinals auf eine Anfrage des Bischofs von Brünn 
über die Folgewichtigkeit der päpstlichen Allo- 
kution bei Wolfsgruber, Joseph Othmar Kar- 
dinal Rauscher, Fürsterzbischof von Wien. Sein 
Leben und sein Wirken (18881 206 f). Aber nie- 
mals hat Kardinal Rauscher einen Zweifel dar- 
über auskommen lassen, daß die verurteilten Ge- 
setze bürgerlich rechtsgültig seien. Besonders scharf 
und klar äußert er sich in einer bedeutsamen Rede 
an den Severinusverein vom 18. Mai 1873. 
„Wir haben eine Verfassung, und sie ist nicht so, 
wie wir wünschen, sonst könnte die Schule nicht 
  
kamen, soll nicht geleugnet werden und ist wohl zur Werkstätte der Entchristlichung gemacht wer- 
verständlich (ogl. L. Steinberger, Die Jesuiten den; den Tagesblättern wäre nicht gestattet, wider 
und die Friedensfrage in der Zeit vom Prager alles Hohe und Heilige so schamlos zu toben, wie 
Frieden bis zum Nürnberger Friedensexekutions- . selbst zu Paris nur die Blätter der roten Republik 
hauptrezeß 1635/50. Studien und Darstellungen es tunz; niemand könnte sich für konfessionslos er- 
aus dem Gebiet der Geschichte. Im Auftrag klären, am wenigsten ein vierzehnjähriger Knabe, 
der Görres-Gesellschaft hrsg. von H. Grauert, der sich die Religionsprüfung ersparen will. Aber 
Bd V, 2. u. 3. Hft 1906) 161 ff). Aber mit der die Verfassung besteht zu Recht, und die vermöge 
Frage nach der Rechtsverbindlichkeit des Friedens- 
schlusses hat dies nichts zu tun. Für die Ent- 
scheidung dieser Frage hatte man auch damals die 
Lehre der Theologen, wonach vertragsmäßig oder 
derselben erlassenen Gesetze und Verordnungen be- 
gründen bürgerliche Rechte und bürgerliche Rechts- 
verbindlichkeiten.. .Die. Taten gewaltsamer Um- 
wälzung bringen in das Rechtsbewußtsein einen
	        
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