Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

419 
verfassung eines Landes ist in Betracht zu ziehen. 
Eine Steuerfreiheit des Klerus, die grundsätzlich 
seiner souveränen Entscheidung entzogen wäre, 
erkennt der moderne Staat nicht an. 
VIII. Theokratische Kompektenzerklärun- 
gen grundsätzlicher Art. Auch bei der Unter- 
suchung genereller Kompetenzerklärungen der Päpste 
kommt es darauf an, erstens ob diese Kompetenz- 
ansprüche wirklich hierokratischer Natur sind und 
zweitens ob diese Kompetenzansprüche, falls sie 
hierokratischer Natur sind, die Katholiken tatsäch- 
lich verpflichten. Hier seien diejenigen amtlichen 
Kundgebungen genannt, die besonders oft zitiert 
werden und die man teils für eine indirekte teils 
eine direkte Verpflichtung der Katholiken auf das 
hierokratische System gegnerischerseits anzuführen 
pflegt. 
Eine indirekte Verpflichtung will man nämlich 
in der kirchlichen Verurteilung bestimmter ein- 
schlägiger Sätze erblicken. Es kommen in Betracht 
der erste Artikel der Deklaration des gallikanischen 
Klerus vom 22. März 1682 und Satz 23 des 
Syllabus von 1864. 
Der erste gallikanische Artikel sagt 
im entscheidenden Teil: Es sind also die Könige 
und Fürsten im Zeitlichen keiner kirchlichen Ge- 
walt durch die Anordnung Gottes unterworfen; 
sie können weder direkt noch indirekt durch die 
Schlüsselgewalt der Kirche abgesetzt oder ihre Unter- 
tanen vom Gehorsam entbunden oder vom Eid der 
Treue losgesprochen werden. (Vollständiger Text 
der Artikel der Deklaration bei Mirbt a. o. O. 
Nr 372 verurteilt wurde die Deklaration durch die 
Bulle Inter multiplices“ vom 4. Aug. 1690; 
Bull. Rom. Ed. Taurin. 20, 67 ff; Denzinger- 
Bannwart, Enchiridion 1% n. 1326. „Vorgänge“ 
hierzu aus dem kanonischen Recht bei Eichmann, 
Der Recursus ab abusu 35 ff.) Man mag dar- 
über streiten, ob der erste gallikanische Artikel ver- 
worfen worden ist bloß wegen der mißfälligen 
Tendenz der Versammlung, die ihn aussprach, und 
die in diesem Artikel „die unleugbarsten Tatsachen 
als einen Vorwurf gegen die Kirche hinstellt“ 
(Phillips, Kirchenrecht III ([1848) 359), oder 
ob es sich um eine hierokratische Erklärung des 
Papstes Alexander VIII. handelt; jedenfalls steht 
fest, daß man durch diese Verurteilung als Katholik 
nicht gehindert ist, den im ersten Artikel ausgespro- 
chenen Grundsatz für „an sich richtig“ zu erklären 
(Lämmer. Institutionen des Kirchenrechts (11892) 
* A. 1; ebenso Walter, Kirchenrecht 15 § 114, 
. 9). 
Der verurteilte Satz 23 des Syllabus 
von 1864 besagt in dem einschlägigen Teil: 
Die römischen Päpste und die allgemeinen Kon- 
zilien haben die Grenzen ihrer Gewalt über- 
schritten und Rechte der Fürsten sich angemaßt. 
Durch die kirchliche Verurteilung dieses Satzes ist 
kein Katholik gezwungen, vorgekommene „Kom- 
petenzüberschreitungen und Usurpationen“ über- 
haupt zu leugnen (Hergenröther, Kathol. Kirche 
Theokratie. 
  
40 
und christlicher Staat /18727 814). Das zu 
leugnen und zu bestreiten war überhaupt nicht 
der Sinn dieser Verurteilung. „Gewiß wäre es 
töricht, aus der Zensurierung der These 23 die 
Annahme abzuleiten, Pius IX. habe feststellen 
wollen, daß kein Papst irgend jemals bei seiner 
Amtsführung einen Mißgriff oder Fehler gemacht 
habe; die Absicht, jede einzelne Regierungs= oder 
Privathandlung der Päpste als solche zu ver- 
teidigen oder zu entschuldigen, hat sicherlich ganz 
fern gelegen“ (Martens, Die Beziehungen usw. 
zwischen Kirche und Staat 386). Die Tendenz 
der Verurteilung bewegt sich vielmehr in derselben 
Richtung, in der sich der verurteilte Satz bewegt. 
Dieser aber enthält ein pauschales Gesamturteil 
über die Tätigkeit der Päpste, der in seiner ver- 
letzenden Verallgemeinerung mit Recht zurück- 
gewiesen wurde (Hergenröther a. a. O. 814). Die 
verurteilte These erhebt den versteckten Vorwurf, 
als ob insbesondere die Herrschaft des hierokra- 
tischen Systems lediglich aufgebaut gewesen wäre 
auf subjektiven Anmaßungen der Pöpste, die diese 
gar noch mala fide aus purer Herrschsucht erhoben 
hätte. Mit Recht wurde dagegen das hierokra- 
tische System durch die Verurteilung der These in 
Schutz genommen (val. unsere Ausführungen über 
die historische Würdigung des hierokratischen Sy- 
stems unten Sp. 422 ff). Keineswegs aber soll 
das hierokratische System hierdurch vor jeder 
Kritik bewahrt werden; insbesondere soll damit in 
keiner Weise das hierokratische System als etwas 
der katholischen Kirche Wesentliches und mit der 
Hierarchie kraft göttlichen Auftrags Verbundenes 
hingestellt werden. Auch durch diese Syllabus- 
entscheidung ist kein Katholik auf das hierokratische 
System verpflichtet. 
Eine direkte Verpflichtung der Katholiken auf 
das hierokratische System will man in der Bulle 
„Unam Sanctam“ des Papstes Bonifa- 
lius VIII. vom 18. Nov. 1302 erblicken (Text: 
c. 1 Extrav. comm. 1, 8; Specimina palaeo- 
graphica regestorum Rom. pont. v. Denifle, 
Nom 1886, Tab. 46; Mirbt a. a. O. Nr 244). 
Es läßt sich nicht bestreiten, daß in der Bulle 
Ausführungen sich finden, die schlechtweg als 
hierokratisch zu bezeichnen sind. Doch nicht dar- 
auf kommt es hier für uns an, sondern darauf, 
ob in der Bulle eine lehramtliche dogmatische Ver- 
pflichtung auf diese hierokratischen Anschauungen 
ausgesprochen ist. Der heftige Streit, der hier- 
über schon geführt worden ist, dreht sich haupt- 
sächlich um die zwei Fragen, welches der Sinn 
des Schlußsatzes der Bulle ist und ob der dogma- 
lische Charakter auf den Schlußsatz zu beschränken 
oder auf die ganze Bulle auszudehnen ist (vgl. 
Funk. Kirchengesch. Abhandlungen und Unter- 
suchungen 1 (1897] 483/489; über die psycho- 
logischen und literarischen Voraussetzungen der 
Bulle vgl. Sauer, Aus den Tagen Bonifaz' VIIk. 
in Theol. Revue 1905, Nr 18, Sp. 582; bei 
Besprechung von Finke, Aus den Tagen Boni-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.