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Bewohner und Güter im Flug getragen werden,
um dort ein glückliches Leben zu führen und über
200 Jahre alt zu werden. Daran schließt sich an
L'entretien d'un européen avec un insulaire
du royaume de Dimocala (Warschau 1752)
von Stanislaus Lesczynski, dem König von Polen,
„Die glückliche Nation oder der Staat von Feli-
cien“ (aus dem Französischen, 2 Bde, Leipzig
1794) von einem unbekannten Verfasser und L'an
2440 (Amsterdam 1770) von Seb. Mercier, in
welchem das staatliche und gesellschaftliche Leben
Frankreichs, wie es im Jahr 2440 sich gestaltet
haben wird, sich dargestellt findet.
Die Grundsätze, welche Morelly in seinem
Code de la nature niedergelegt hatte, trugen
ihre Früchte. In der Ara der französischen Revo-
lution suchte Babeuf und der von ihm gegründete
„Klub der Gleichen“ den Morellyschen Kommu-
nismus gewaltsam durchzuführen; der Versuch
mißlang zwar, aber die kommunistische Tendenz
pflanzte sich auch in die neuere Zeit herüber und
fand in Owen, Saint-Simon, Fourier ihre Ver-
treter. Wir dürfen uns daher nicht wundern,
wenn wir auch in der neueren Zeit einen Staats-
roman treffen, der für den Kommunismus direkt
Propaganda macht. Es ist Le voyage en lcarie
(Paris 1842, 1848; deutsch 1847 und 1894)
von Etienne Cabet (1788/1856). Carisdall,
ein junger, schöner und reicher Lord, kommt auf
einer Reise in das Land Ikarien und schildert nun
neben seinen Abenteuern auch dieses ikarische
Dorado. Das Land ist in 100 ungefähr gleiche
Provinzen geteilt, deren jede 10 Kreise umfaßt.
Jede Gemeinde besitzt eine Kreisstadt; die in der
Mitte der Provinz gelegene Kreisstadt ist Pro-
vinzialhauptstadt. Alle umgeben die Landeshaupt-
stadt Ikara. Hier ist alles herrlich. Die Breite
der Straßen ist so bedeutend, daß überall für vier
Eisengeleise hinreichend Platz ist. Kein Staub
belästigt die Lungen der Bewohner, da großartige
Springbrunnen ihn vernichten. Miasmen sind in
den Städten nicht vorhanden, da alle Etablisse-
ments, die übel ausdünsten, nach außen verlegt
sind. Auf den Straßen ist kein Schmutz und kein
Lärm; die Hunde beißen nicht mehr, machen so-
gar nicht einmal mehr Lärm. Jedes Stadtviertel
stellt eine besondere Kunstepoche dar, und so glaubt
man sich bald in Agypten oder Rom, bald in
Rußland oder Indien. Ein offizielles Kochbuch
besitzt jede Familie für das Abendessen; Frühstück
und Mittagessen sind gemeinsam. Die Kleidung
ist entzückend; alles ist parfümiert. 60 000 Pferde
stehen in der Laupgsiodt zum Spazierenreiten zur
Verfügung. Der Verkehr wird durch zweistöckige
Ikorogoni (Wagen), Eisenbahnen, über- und
unterseeische Dampfboote und lenkbare Lustballons
vermittelt usw. Der Grund dieser hohen Blüte
Ikariens ist der Kommunismus. Alles gehört dem
Staat; dieser gewährt Nahrung, Kleidung, Er-
ziehung und ärztliche Hilfe. Alle sind gleich; es
gibt nicht Dienstboten, nicht Arme; niedrige Ge-
Staatsromane.
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schäfte werden durch Maschinen besorgt. Die Er-
ziehung ist vom 14. bis 17. Jahr öffentlich. Die
Kenntnis der Realien wird besonders gefördert;
Landwirtschaft und Zeichenkunst sind die Haupt-
sache. Mit dem 18. Jahr beginnt die Erziehung
zur Arbeit. Die Arbeitszeit beträgt 7 Stunden
im Sommer und 6 im Winter. Die Männer
arbeiten bis zum 65., die Frauen bis zum 50.
Jahr, die Ehe bleibt. Die Souveränität ruht in
Ikarien beim Volk, und die Volksvertretung ist
die erste Gewalt im Staat. Sie besteht aus 2000
Köpfen. Die vollziehende Gewalt ist gleichfalls
bei einer vom Volk gewählten Behörde, 15 Mi-
nistern und einem Präsidenten, die alle zwei Jahre
gewählt werden. Die Beamten sind sämtlich ab-
setzbar, haben keinen Gehalt, sind nicht besser ge-
stellt als andere Bürger und auch nicht frei von
den gewöhnlichen Arbeiten. Es gibt keine Rich-
ter, keine Polizei, keine Advokaten, keine Gefäng-
nisse, keine Verbrechen; denn das Geld ist un-
bekannt, und die Erziehung ist vortrefflich. Jede
Verbindung, die Schule, die Familie, die Werk-
statt straft ihre Mitglieder selbst. Das Dasein
eines Gottes erkennen die Ikarier an, aber sie
wissen nichts Näheres über ihn. Die Bibel halten
sie für eine Sammlung von Märchen; Christus
gilt ihnen als bloßer Mensch, der Freiheit, Gleich-
heit und Brüderlichkeit verkündet hat. Allerdings,
wenn einzelne ein tieferes religiöses Bedürfnis
fühlen, so können sie sich zu Sekten zusammen-
schließen und erhalten dann vom Staat Tempel,
Priester und Priesterinnen. Aber solche religiöse
Vereinigungen sind Privatsache; öffentlich an-
erkannt ist die Religion nicht.
Von den Staatsromanen der neuesten Zeit
hat das größte und nachhaltigste Aufsehen er-
regt Looking backward (Boston 1888 u. 5.;
deutsch: „Rückblick aus dem Jahr 2000“, 1890
u. ö.; auch in Reclams Universalbibliothek) von
dem Amerikaner Edward Bellamy (1850 bis
1898). In diesem Roman, der zahlreiche Gegen-
schriften und Parodien hervorrief, kommt der
modern-sozialistische Gedanke klar zum Ausdruck.
Seine Fabel ist folgende. Ein junger Gentleman
in Boston namens Mr. West, verlobt mit einem
Fräulein Edith, leidet aber an Schlaflosigkeit. Er
läßt sich daher in seinem Hause ein unterirdisches
Schlafgemach bauen, um nachts von dem Lärm
der Stadt verschont zu bleiben und Schlaf ge-
nießen zu können. Desungeachtet kann er diesen
doch erst finden, nachdem von einem Arzt (Pitts-
bury) hypnotische Manipulationen an ihm vor-
genommen worden sind. Einmal nun — es ist
der Vorabend des Tags, an welchem der Arzt in
eine andere Gegend verzieht — hat die gedachte
Hypnose die Wirkung, daß Mr. West in einen
Starrkrampf verfällt, aus dem er erst im Jahr 2000
erwacht. Sein Haus war nämlich mittlerweile ab-
gebrannt; an dessen Stelle war ein neues erbaut;
dessen Besitzer im Jahr 2000 läßt einen Keller
ausgraben; bei dieser Gelegenheit stößt man auf