423
petenzüberschreitung und der Herrschsucht anzu-
tlagen? Es hat vor allem früher an solchen nicht
gefehlt, die diese Frage ohne weiteres bejahten.
Der gesunde historische Sinn unserer Tage räumt
aber doch mit diesem ungerechten Urteil erfreulicher-
weise immer mehr auf.
Es genügt, hier auf folgende Ausführungen
eines neueren protestantischen Historikers hinzu-
weisen: „Wir sind gewohnt, die Entwicklung der
päpstlichen Befugnisse . als lauter Anmaßung
und gewalttätige Usurpation anzusehen. Die
rohe Psychologie, die in den Päpsten seit Nikolaus I.
lauter bewußte Betrüger sah, ist glücklicherweise
überwunden. Wir zögern nicht mehr, einem
Gregor VII. und Innozenz III. die vollste bona
fides zuzugestehen, auch wo sie von Mitteln Ge-
brauch machen, die uns bedenklich erscheinen. Die
ganze Papstgeschichte des Mittelalters ist ein un-
verständliches, unerklärliches Phänomen, wenn
man nicht im Auge behält, daß die Päpste, auch
wo sie sich die weitgehendsten, vor dem Forum
bistorischer Kritik anfechtbarsten Rechte beilegten,
doch nur aussprachen, was zum mindesten ein
großer Teil ihrer Zeitgenossen schon glaubte“
(Haller, Papsttum und Kirchenreform, vier Kapitel
zur Geschichte des ausgehenden Mittelalters 1
119031 39/40). Im selben Sinn sagte schon
früher der protestantische Theologe Hundes-
hagen: „Das politische System des Papsttums
ist eine Reihe von Jahrhunderten lang getragen
worden von einer ungeheuern moralischen Macht,
von der öffentlichen Meinung, von einem wirk-
lichen Enthusiasmus der europäischen Völker“
(Hundeshagen, Über einige Hauptmomente in der
geschichtl. Entwicklung des Verhältnisses zwischen
Staat u. Kirche. in Zeitschr. für Kirchenrecht 1 259).
Es ist die reizvolle Aufgabe des Historikers,
zu untersuchen, welche psychologischen und realen
Momente diese öffentliche Meinung geschaffen
haben, wie auf dem Boden dieser öffentlichen
Meinung die päpstliche Hierokratie gewissermaßen
naturgemäß von selbst „sich etablierte“ und end-
lich, woher die Veränderungen in der Volksseele
und öffentlichen Meinung kommen, die allmählich
die hierokratische Berbindung von Kirche und
Staat wieder verschwinden ließen. Unbefangen
kann und soll auch der katholische Historiker an
dieser Aufgabe sich beteiligen.
Eingehbend hat diese Frage jüngst Klemens
Bäumker behandelt, nachdem schon vor ihm Frhr
v. Hertling die entscheidenden Elemente hervor-
gehoben hatte (v. Hertling, Eröffnungsrede auf
der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft
1905. Jahresbericht 19061 25; Klemens Bäum-
ker, Die europäische Philosophie des Mittelalters,
in Kultur der Gegenwart, T1 I, Art. 5 (1909),
Die thomistische Gesellschaftslehre 351/356; ins-.
besondere die theokratischen Elemente bei Thomas
351/358)0. Von der Entstehung der theokratischen
Anschauung gilt das Work v. Herllings, das über-
haupt häufig auf politische Theorien zutrifft, daß
Theokratie.
424
„diese Anschauung nur das Fazit sei, welches nach-
trägliche Uberlegung aus dem geschichtlich Ge-
wordenen gezogen hat" (a. a. O. 25). Durch die
tatsächliche Entwicklung der Dinge waren diese
politischen Ansprüche in weiten Kreisen zur An-
erkennung gebracht, und nun führte eine innere
psychologische Notwendigkeit zu einer ausgebauten
theoretischen Begründung desselben. Klemens
Bäumker gibt folgende Elemente dieser nachträg-
lichen Selbstrechtfertigung: Man stützte sich erstens
auf ursprünglich religiös zethisch gedachte all-
gemeine Grundsätze über den Wert des Geistlichen
und des Weltlichen, zweitens auf allegorisch ge-
deutete oder doch vom Zusammenhang losgelöste
Bibelstellen; aus diesem Material suchte man
dann deduktiv und a priori die gewordenen theo-
kratischen Ansprüche und Anschauungen zu be-
gründen. Damit „verquickte man geschichtlich zu
erklärende und darum nur temporäre tatsächliche
Verhältnisse mit einer vermeintlich allgemein gül-
tigen und naturnotwendigen Begründung, wie
ähnliches seit der Erneuerung römischerechtlicher
Anschauungen übrigens auch auf der Gegenseite
geschah“ (Bäumker a. a. O. 352).
Für die theoretische Uberwindung
des theokratischen Grundgedankens hatte große
Bedeutung Thomas von Aquin;z selbst noch im
Bannkreis theokratischer Anschauungen, wie die
Zeit sie bot, stehend, hat er doch schon jene Er-
kenntniskeime in sein System aufgenommen, die
nachher zu innerer Uberwindung des theokratischen
Gedankens führten. Diese neuen Erkenntniskeime
waren gegeben in der aristotelischen Gesellschafts-
lehre, besonders in dem Werk vom Staat, das
damals bekannt und sofort kommentiert wurde.
Für die innere Durcharbeitung und selbständige
Bewältigung dieser Lehre hat kein anderer Scho-
lastiker solches geleistet wie Thomas.
„Das ist eine besondere Leistung von Thomas:
mit diesen (d. i. theokratischen) in der Lehre von
Augustins Gottesstaat liegenden Anschauungen
entschlossen und durchgehends Elemente einer
wieder aufgegriffenen antiken Tradition ver-
bunden zu haben, welche eine gerechtere Würdi-
gung der Aufgaben und der natürlichen Stellung
des Staats ermöglichten. Ein neues Moment
positiver Stellungnahme zu der natürlichen Ge-
sellschaftsorganisation und zu deren Vollendung,
dem Staat, war damit auch im Kreis der theo-
logisch und scholastisch denkenden Geister heimisch
gemacht. Dieser der mittelalterlichen Theorie ein-
gepflanzte neue Gedankenkern hat nicht nur die
Einseitigkeit rein spiritualistischer Traditionen ge-
mildert, sondern er hat später auch, losgelöst von
dem geistlichen Gedankenkreis, den Thomas ihm
eingesügt hatte, der selbständigen Entwicklung einer
weltlichen philosophischen Staatstheorie für lange
Zeit die typische Richtung gegeben“ (Bäumker
a. a. O. 353).
Die thelogische Frage nach der Ver-
einbarkeit des theokratischen Systems mit der