Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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petenzüberschreitung und der Herrschsucht anzu- 
tlagen? Es hat vor allem früher an solchen nicht 
gefehlt, die diese Frage ohne weiteres bejahten. 
Der gesunde historische Sinn unserer Tage räumt 
aber doch mit diesem ungerechten Urteil erfreulicher- 
weise immer mehr auf. 
Es genügt, hier auf folgende Ausführungen 
eines neueren protestantischen Historikers hinzu- 
weisen: „Wir sind gewohnt, die Entwicklung der 
päpstlichen Befugnisse . als lauter Anmaßung 
und gewalttätige Usurpation anzusehen. Die 
rohe Psychologie, die in den Päpsten seit Nikolaus I. 
lauter bewußte Betrüger sah, ist glücklicherweise 
überwunden. Wir zögern nicht mehr, einem 
Gregor VII. und Innozenz III. die vollste bona 
fides zuzugestehen, auch wo sie von Mitteln Ge- 
brauch machen, die uns bedenklich erscheinen. Die 
ganze Papstgeschichte des Mittelalters ist ein un- 
verständliches, unerklärliches Phänomen, wenn 
man nicht im Auge behält, daß die Päpste, auch 
wo sie sich die weitgehendsten, vor dem Forum 
bistorischer Kritik anfechtbarsten Rechte beilegten, 
doch nur aussprachen, was zum mindesten ein 
großer Teil ihrer Zeitgenossen schon glaubte“ 
(Haller, Papsttum und Kirchenreform, vier Kapitel 
zur Geschichte des ausgehenden Mittelalters 1 
119031 39/40). Im selben Sinn sagte schon 
früher der protestantische Theologe Hundes- 
hagen: „Das politische System des Papsttums 
ist eine Reihe von Jahrhunderten lang getragen 
worden von einer ungeheuern moralischen Macht, 
von der öffentlichen Meinung, von einem wirk- 
lichen Enthusiasmus der europäischen Völker“ 
(Hundeshagen, Über einige Hauptmomente in der 
geschichtl. Entwicklung des Verhältnisses zwischen 
Staat u. Kirche. in Zeitschr. für Kirchenrecht 1 259). 
Es ist die reizvolle Aufgabe des Historikers, 
zu untersuchen, welche psychologischen und realen 
Momente diese öffentliche Meinung geschaffen 
haben, wie auf dem Boden dieser öffentlichen 
Meinung die päpstliche Hierokratie gewissermaßen 
naturgemäß von selbst „sich etablierte“ und end- 
lich, woher die Veränderungen in der Volksseele 
und öffentlichen Meinung kommen, die allmählich 
die hierokratische Berbindung von Kirche und 
Staat wieder verschwinden ließen. Unbefangen 
kann und soll auch der katholische Historiker an 
dieser Aufgabe sich beteiligen. 
Eingehbend hat diese Frage jüngst Klemens 
Bäumker behandelt, nachdem schon vor ihm Frhr 
v. Hertling die entscheidenden Elemente hervor- 
gehoben hatte (v. Hertling, Eröffnungsrede auf 
der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft 
1905. Jahresbericht 19061 25; Klemens Bäum- 
ker, Die europäische Philosophie des Mittelalters, 
in Kultur der Gegenwart, T1 I, Art. 5 (1909), 
Die thomistische Gesellschaftslehre 351/356; ins-. 
besondere die theokratischen Elemente bei Thomas 
351/358)0. Von der Entstehung der theokratischen 
Anschauung gilt das Work v. Herllings, das über- 
haupt häufig auf politische Theorien zutrifft, daß 
Theokratie. 
  
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„diese Anschauung nur das Fazit sei, welches nach- 
trägliche Uberlegung aus dem geschichtlich Ge- 
wordenen gezogen hat" (a. a. O. 25). Durch die 
tatsächliche Entwicklung der Dinge waren diese 
politischen Ansprüche in weiten Kreisen zur An- 
erkennung gebracht, und nun führte eine innere 
psychologische Notwendigkeit zu einer ausgebauten 
theoretischen Begründung desselben. Klemens 
Bäumker gibt folgende Elemente dieser nachträg- 
lichen Selbstrechtfertigung: Man stützte sich erstens 
auf ursprünglich religiös zethisch gedachte all- 
gemeine Grundsätze über den Wert des Geistlichen 
und des Weltlichen, zweitens auf allegorisch ge- 
deutete oder doch vom Zusammenhang losgelöste 
Bibelstellen; aus diesem Material suchte man 
dann deduktiv und a priori die gewordenen theo- 
kratischen Ansprüche und Anschauungen zu be- 
gründen. Damit „verquickte man geschichtlich zu 
erklärende und darum nur temporäre tatsächliche 
Verhältnisse mit einer vermeintlich allgemein gül- 
tigen und naturnotwendigen Begründung, wie 
ähnliches seit der Erneuerung römischerechtlicher 
Anschauungen übrigens auch auf der Gegenseite 
geschah“ (Bäumker a. a. O. 352). 
Für die theoretische Uberwindung 
des theokratischen Grundgedankens hatte große 
Bedeutung Thomas von Aquin;z selbst noch im 
Bannkreis theokratischer Anschauungen, wie die 
Zeit sie bot, stehend, hat er doch schon jene Er- 
kenntniskeime in sein System aufgenommen, die 
nachher zu innerer Uberwindung des theokratischen 
Gedankens führten. Diese neuen Erkenntniskeime 
waren gegeben in der aristotelischen Gesellschafts- 
lehre, besonders in dem Werk vom Staat, das 
damals bekannt und sofort kommentiert wurde. 
Für die innere Durcharbeitung und selbständige 
Bewältigung dieser Lehre hat kein anderer Scho- 
lastiker solches geleistet wie Thomas. 
„Das ist eine besondere Leistung von Thomas: 
mit diesen (d. i. theokratischen) in der Lehre von 
Augustins Gottesstaat liegenden Anschauungen 
entschlossen und durchgehends Elemente einer 
wieder aufgegriffenen antiken Tradition ver- 
bunden zu haben, welche eine gerechtere Würdi- 
gung der Aufgaben und der natürlichen Stellung 
des Staats ermöglichten. Ein neues Moment 
positiver Stellungnahme zu der natürlichen Ge- 
sellschaftsorganisation und zu deren Vollendung, 
dem Staat, war damit auch im Kreis der theo- 
logisch und scholastisch denkenden Geister heimisch 
gemacht. Dieser der mittelalterlichen Theorie ein- 
gepflanzte neue Gedankenkern hat nicht nur die 
Einseitigkeit rein spiritualistischer Traditionen ge- 
mildert, sondern er hat später auch, losgelöst von 
dem geistlichen Gedankenkreis, den Thomas ihm 
eingesügt hatte, der selbständigen Entwicklung einer 
weltlichen philosophischen Staatstheorie für lange 
Zeit die typische Richtung gegeben“ (Bäumker 
a. a. O. 353). 
Die thelogische Frage nach der Ver- 
einbarkeit des theokratischen Systems mit der
	        
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