Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Wests unterirdisches Zimmer, und er erwacht. Er 
befindet sich im Hause eines Dr Leete, der eine 
Frau und eine Tochter namens Edith hat. Sie 
nehmen sich freundlich seiner an; Dr Leete führt 
ihn in die neuen Verhältnisse ein, belehrt ihn 
über die neue Gesellschaftsordnung, die sich im 
20. Jahrh. ausgebildet hat. West heiratet später 
dessen Tochter Edith, nachdem sich herausgestellt 
hat, daß jene Edith, mit der er früher verlobt war, 
deren Urgroßmutter gewesen. In den Rahmen 
dieser Fabel sind die Schilderungen jener neuen 
Gesellschaftsordnung, die im Jahr 2000 besteht, 
eingefügt. Das Grundprinzip, auf dem diese neue 
Gesellschaftsordnung beruht, besteht darin, daß, 
während bisher die Produktion nur von einer 
Vielheit von einzelnen Unternehmern besorgt 
worden, jetzt die Nation selbst sich zu einem großen 
Geschäftsverband organisiert hat, in welchem alle 
Einzelwirtschaften und Einzelverbände aufgegangen 
sind. Die Nation ist nun der einzige Kapitalist 
an Stelle aller andern Kapitalisten, der einzige 
Unternehmer, der letzte Monopolist, der alle früheren 
kleineren Monopole verschlang, ein Monopolist, 
an dessen Gewinn und Ersparnis alle Bürger teil- 
nehmen. Infolgedessen sind nun alle Bürger zu 
Arbeitern im Dienst der Nation geworden. Sie 
bilden in ihrer Gesamtheit ein großes Arbeiter- 
heer. Die Arbeitsdienstzeit währt 24 Jahre; sie 
beginnt für den einzelnen mit dem 21. und endet 
mit dem 45. Lebensjahr. Vorher genießt der ein- 
zelne die nationale Erziehung; nach dem 45. Jahr 
kann er ehrenvoll ausruhen und sich beschäftigen, 
wie er will. Das Prinzip, nach welchem die indu- 
strielle Armee organisiert ist, ist dieses, daß eines 
Menschen Anlagen, die geistigen und die körper- 
lichen, darüber entscheiden, welche Arbeiten er zum 
größtmöglichen Nutzen für die Nation und zu seiner 
eignen größten Befriedigung übernehmen könne. 
Die Berufswahl ist frei; aber alle Arbeitsrekruten 
müssen zuerst drei Jahre lang gewöhnliche Arbeiter 
sein; dann erst können sie ihren besondern Beruf 
wählen. Ein Übergang von einem zu einem andern 
Arbeitszweig ist zwar gestattet, aber nur unter 
gewissen Bedingungen. Die Produkte der Arbeits- 
leistung aller werden in öffentlichen Vorratshäusern 
aufgestapelt. Ein Kredit, der seinem Anteil an 
der jährlichen Produktion entspricht, wird jedem 
Bürger am Anfang jeden Jahres in der Staats- 
buchführung eingeräumt, und eine Kreditkarte 
wird ihm ausgestellt, auf Grund welcher er sich 
aus den öffentlichen Warenlagern das besorgt, 
was er wünscht und wann er es wünscht. Die 
Karte enthält eine Anzahl Quadrate, und für 
das, was der einzelne bedarf, werden dann so und 
so viel Quadrate durchlocht. Geld, Kauf und 
Verkauf gibt es nicht. Die Warenverteilung ge- 
schieht in folgender Weise: In gewissen Probe- 
lagern sind Proben aller Waren aufgelegt. Der 
Besteller wählt daraus, was er wünscht; die Be- 
stellung wird dann durch Leitungsrohre in das 
bezügliche Warenlager gesendet; von da wird die 
  
Staatsromane. 
  
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bestellte Ware in der nötigen Verpackung durch 
weite Röhren in die verschiedenen Stadtbezirke 
befördert und von dort im Haus des Bestellers 
abgegeben. Es gibt verschiedene Rangstufen in 
der Arbeiterarmee, analog wie in den früheren 
militärischen Armeen. Den obersten Rang in den 
verschiedenen Gewerbsbetrieben nehmen die Ober- 
meister ein, und aus diesen wird der Präsident 
der Nation gewählt, welcher als Höchstkomman- 
dierender der Arbeiterarmee gilt und vom ein- 
fachen Arbeiter aufwärts alle Rangstufen durch- 
laufen haben muß. Die Wahl der Obermeister 
sowohl als auch des Präsidenten geschieht aber 
nicht durch die aktiven Arbeiter, sondern durch 
diejenigen, welche, 45 Jahr alt, ihre Zeit ab- 
gedient haben und nun als Ehrenmitglieder der 
betreffenden Gewerbe gelten. Aus der Zahl dieser 
ernennt auch der Präsident die Richter, deren 
Amtsdauer fünf Jahre beträgt. Letztere haben 
aber wenig zu tun, da die Zahl der Verbrechen 
nur sehr gering ist, was nicht wundernehmen darf, 
da in der neuen Gesellschaftsordnung die Veran- 
lassungen zu den weitaus meisten Verbrechen, Geld- 
gier, Not, Selbstsucht usw., weggefallen sind und 
die Bildung allgemein ist. Daher gibt es auch 
keine Polizei. Nahezu die einzige Aufgabe der 
Regierung ist die Reglung des Gewerbebetriebs. 
Militär und Marine kennt man nicht. Auch die 
Frauen gehören zur Arbeiterarmee und dienen 
ihre Dienstzeit bis zum 45. Jahr ab, stehen aber 
unter dem Oberbefehl einer Frau und auch sonst 
ausschließlich unter weiblicher Leitung. Die Wahl 
dieser Vorsteherinnen vollzieht sich in der gleichen 
Weise wie bei den Männern. 
Bellamys vielgelesene Schrift wurde Veran- 
lassung zu einer ganzen Reihe neuer Staatsromane, 
die jedoch die Beachtung ihres Vorbilds nicht er- 
reichten. Das anonyme Buch „Im Reiche der 
Frauen“ schildert den Staat Uremah, in dem die 
Frauen herrschen. Der ungarische Bodenreformer 
Theodor Hertzka macht in der Schrift „Frei- 
land, ein soziales Zukunftsbild“ (1890, 101897) 
und in den sozialpolitischen Erzählungen „Eine 
Reise nach Freiland“ (1893 u. ö., auch in Reclams 
Universalbibliothek) und „Entrückt in die Zukunft" 
(1895 u. ö.) Propaganda für eine neue Boden- 
verteilung auf sozialistischer Grundlage, die jedem 
den vollen Ertrag seiner Arbeit sichert. Der Schotte 
Makay proklamiert in seiner Schrift „Die Anar- 
chisten, ein Kulturgemälde aus dem Ende des 
19. Jahrh.“ die Anarchie geradezu als höchstes 
Ideal. Ferner seien erwähnt: Berta v. Suttner, 
„Das Maschinenzeitalter“ (1889 u. ö.); Don- 
nelly, Caesar's Column (Lond. 1891; deutsch in 
Reclams Universalbibliothek); Otto, „Der Um- 
sturz“ (1896); Mantegazza, „Das Jahr 3000“" 
(deutsch 1897). — Die meisten auch der neuzeit- 
lichen Staatsromane sind sozialistisch; denn mag 
die praktische Durchführbarkeit des Kommunismus 
sich auch immer von neuem als unmöglich er- 
weisen, so scheint doch die menschliche Phantasie
	        
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