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satz zu Wittenberg und Leipzig Hauptsitz des
Pietismus. Als auffallend möchte es erscheinen,
daß Thomasius trotz seiner mehr rationalistischen
Denkungsweise mit den Pietisten fortan, wenig-
stens die ersten Jahre hindurch, so einmütig
zusammenwirkte. Im Grund ist es jedoch nicht
auffallend; denn beide hatten es mit ein und dem-
selben, damals noch übermächtigen Gegner zu tun,
mit dem orthodoxen Luthertum. Gestärkt durch
dieses Bündnis setzte nun Thomasius seine Be-
strebungen von vormals in regsamster Weise fort.
Nachdem er 1688 schon eine nicht bloß für Stuben-
gelehrte, sondern für Welt= und Hofleute berech-
nete Introductio ad philosophiam aulicam
veröffentlicht hatte, ließ er 1691 eine vornehmlich
für Juristen berechnete „Einleitung in die Ver-
nunftlehre“ und alsdann eine „Ausübung der
Vernunftlehre“, ferner eine „Einleitung in die
Sittenlehre“ und eine „Ausübung der Sitten-
lehre“ und einen „Versuch vom Wesen des Geistes“
folgen, alle zusammen im Sinn eines wenig be-
friedigenden Eklektizismus gehalten. 1696 ließ er
eine von seinem Zuhörer Brenneisen im Geist
seiner Vorlesungen abgefaßte Schrift drucken über
das „Recht des Fürsten in Mitteldingen". Zu
diesen Mitteldingen zählte er die äußerlichen Re-
ligionssachen. So wurde er zum Ausbilder des
sog. Territorialsystems; seine Gegner waren da-
mit neuerdings wieder zum Kampf herausgefor-
dert. J. B. Carpzov zu Leipzig stellte im Sinn
des lutherischen Episkopalsystems ihm die Schrift
entgegen: De jure decidendi controversias
theologicas. Dagegen schrieben Thomasius und
Brenneisen die Schrift über „das Recht evangeli-
scher Fürsten in theologischen Streitigkeiten“
(1696). Ihr fügte Thomasius eine Apologie bei,
worin er die Geschichte seiner Leipziger Streitig-
keiten vor das Forum der Offentlichkeit zog und
dadurch wieder eine neue Streitigkeit anfachte.
Nicht genug! 1697 publizierte er zwei weitere
Schriftwerke: An haeresis sit crimen? und
De iure principis circa haereticos, womit er
von einer neuen Seite die Opposition seiner Gegner
entflammte. Er sprach hier der weltlichen Obrig-
keit das Recht ab, die Ketzer zu bestrafen, und
suchte aus der Geschichte zu zeigen, daß die Ketzer-
strase nur der Intoleranz ihren Ursprung verdanke.
Außerdem brachte ein weiterer Umstand ihn bei
vielen seiner Zeitgenossen in Mißkredit, so sehr er #i
ihm auch zur Ehre gereicht. 1698 hatte er in
einem Hexenprozeß selber noch aus Todesstrafe
angetragen, war aber, gewarnt von seinem vor-
maligen Lehrer und nunmehrigen Kollegen, dem
Rechtslehrer Samuel Stryck, nachdenklich gewor-
den und trat dann, wie ehedem schon der Jesuit
Friedrich Spe in der Cautio criminalis von
1631, gegen die Verurteilung der Hexen auf in
der Dissertation: De crimine magiae (1701),
die er 1702 in deutscher Sprache veröffentlichte,
und ließ ihr 1712 eine desgleichen ins Deutsche
übertragene Schrift: De origine et progressu.
Thomasius.
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inquisitorü contra sagas folgen. Nicht ge-
ringeres Verdienst erwarb er sich 1705 durch
Herausgabe der Schrift De tortura e foris
Christianorum proscribenda. Mittlerweile war
er auch an eine Umarbeitung seines Jugendwerks
Institutiones jurisprudentiae divinae ge-
gangen und hatte sie 1705 der Offentlichkeit über-
geben unter dem Titel Fundamenta iuris na-
turae et gentium. Sie bildet sein zweites und
gereifteres systematisches Hauptwerk. Während er
in jenem Jugendwerk die Grundzüge des natür-
lichen und zugleich des göttlich geoffenbarten
Rechts zu entwickeln suchte, will er in letzterem
Werk reines Naturrecht bieten, gewonnen durch
rein vernünftige Betrachtung der Dinge, da er
sattsam die Erfahrung gemacht habe, daß er durch
Berufung auf die Heilige Schrift die „Hornisse“
mehr gereizt habe, als wenn er von ihr Abstand
genommen hätte, und will aus diesem Grund hier
auch vom ursprünglichen Integritätsstand ganz.
abstrahieren. Zudem hat er die Naturrechtslehre
Pufendorfs hier einer durchgreifenden Reform
unterworfen, wie sich bald zeigen soll. Zu seiner
Genugtuung wurde ihm 1709 ein Ruf zu teil, an
die Universität Leipzig zurückzukehren; er lehnte
den Ruf ab, wurde 1710 nach Strycks Tod erster
Professor und Dekan der Juristenfakultät und
Rektor der Universität zu Halle und erfreute sich
von nun an ruhiger und heiterer Tage bis zu
seinem im 74. Lebensjahr (am 23. Sept. 1728)
eintretenden Ende. Unter den verschiedenen, meist
juristischen Publikationen dieser späteren Zeit
dürften wohl die „#ernsthaften, aber doch muntern
und vernünftigen Thomasischen Gedanken und
Erinnerungen über allerhand juristische Händel“,
1720/21 in vier Bänden erschienen, die hervor-
ragendste Bedeutung haben. Eine noch genauere
Einschau in die zahlreichen juristischen Händel,
die auf den verschiedenen Stationen seines viel-
bewegten Lebens ihn beschäftigten, bieten die in
lateinischer Sprache erschienenen, äußerst mannig-
falligen Dissertationen, auf welche wir hier nicht
eingehen können. Nur eine Zeichnung seiner natur-
rechtlichen Grundanschauungen, durch die er am
meisten in die Zeitbewegung eingegriffen hat,
möge nebst einer kurzen Beurkeilung im folgenden
noch versucht werden.
In dem früheren Hauptwerk Institutiones
iurisprudentiac divinae von 1687 ist
das Naturrecht, wie in Pufendorfs Werk De
inre naturac et gentium, prinzipiell vom ge-
offenbarten Recht geschieden, obgleich mit ihm
äußerlich verbunden, mit der natürlichen Sitten-
und Religionslehre aber noch völlig in eins ver-
schlungen. Woher stammt nun das Naturrecht
und dessen Verpflichtung? Aus der göttlichen
Natur oder aus der menschlichen Natur oder aus
dem göttlichen Willen? Sie lassen sich nicht ab-
leiten aus der göltlichen Natur als solcher; denn
wie könnte z. B. die Tugend der Dankbarkeit aus
dem Urbild der göttlichen Gerechtigkeit abgeleitet