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von derartigen Traumbildern, die ihr allgemeine
Glückseligkeit vorzaubern, unwiderstehlich ange-
zogen zu werden. Darin liegt auch das Bedenkliche
der Staatsromane, die für die Popularisierung
kommunistischer Ideen wirksamer sind als irgend
ein anderes Unternehmen. Von dieser Überzeugung
durchdrungen, haben deshalb auch die Gegner der
sozialdemokratischen Bewegung sich dieses eindrucks-
vollen Kampfmittels bedient; so entstanden die
parodistischen Staatsromane von Eugen Richter
(„Sozialdemokratische Zukunftsbilder“, 1881) und
Gregorovius („Der Himmel auf Erden“, 1892),
von denen jedoch der letztgenannte wegen zu krasser
Schilderungen auch von den bürgerlichen Parteien
abgelehnt wurde.
Inden letzten Jahren ist ein entschiedenes Nach-
lassen des Interesses an den Staatsromanen alten
Stils zu beobachten. An ihre Stelle sind Zu-
kunftsromane getreten, die den Zusammen-
bruch der gesamten modernen Zivilisation schil-
dern, wie er durch den in sozialer Beziehung total
umwälzend wirkenden Zukunftskrieg erfolgt. Der
bekannteste Vertreter dieser Literaturgattung ist der
Engländer Herbert George Wells (geb. 1866),
von dessen grandios phantastischen Romanen nur
The War of the Worlds (Lond. 1898; deutsch
91), When the Sleeper Wakes (ebd. 1899;
deutsch 1906) und besonders The War in the
Air (ebd. 1908; deutsch 1909) erwähnt seien.
Wells warnt, die Kultur als Selbstzweck zu be-
trachten, und rät, „die große Zivilisation zu
organisieren, die offenbar der Menschheit wartet"“.
Denn die Zerstörung „des hohen, gefährlichen
und großartigen Gebäudes der mechanischen Zivili-
sation“ steht für ihn fest. Sie wird die Welt um
Jahrhunderte ihrer Entwicklung berauben und
niemand übriglassen als den gemeinen Mann,
der „zurück zum Dünger“ sinkt.
Literatur. R. v. Mohl, S., in Geschichte u.
Literatur der Staatswissenschaften l (1855); Gehrke,
Kommunistische Idealstaaten (1874); Sudre, Ge-
schichte des Kommunismus oder Widerlegung der
sozialistischen Utopien (1882); Kautsky, Thomas
Morus u. sein I’topia (1888); Kleinwächter, Die
S. (1791); Schlarafffa politica, Geschichte der
Dichtungen vom besten Slaat (anonym, 1892; voll
antikatholischer Vorurteile, aber sehr anregend);
Stammler, Utopien, in der Deutschen Rundschau
(1892); P. Natorp, Platons Staat usw. (1895);
Reiner, Berühmte Utopisten (1906); Voigt, Die
sozialen Utopien (1906). (Stöckl, rev. Roloff.]
Staatsschulden. Die große Ausdehnung,
welche das Staatsschuldenwesen in den letzten
Jahrhunderten immer mehr erlangt hat, gehört
zu den bedeutungsvollsten, großenteils unerfreu-
lichen Erscheinungen in der neueren Staatenge-
schichte. Sie hängt, teils in Vorbedingung teils
ursächlich, zusammen mit der Verdrängung der
Naturalwirtschaft durch die Geldwirtschaft, mit
der Umgestaltung des Kriegswesens, mit der Er-
Staatsschulden.
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mäßigen Zustände. Aus der antiken Welt wird
von Staatsschulden nur wenig berichtet. Weder
dem Geist der Herrschergewalt und den despo-
tischen Monarchien noch der Auffassung der Bür-
gerpflichten in den Freistaaten des Altertums ent-
sprach die Aufnahme von Anleihen des Staats
bei seinen Untertanen oder Bürgern. Reichten die
regelmäßigen Einnahmen und die in günstiger
Zeit gesammelten Schätze für außerordentliche
Geldbedürfnisse des Staats, die bei der vorherr-
schenden Naturalwirtschaft auch für Kriege ver-
hältnismäßig gering waren, nicht aus, so wurde
das Vermögen der Besitzenden durch auferlegte
Schatzungen oder durch Aufforderung zu frei-
willigen Beiträgen in Anspruch genommen. Bei
glücklicher Kriegführung gab die Ausbeutung der
Besiegten Ersatz, so besonders in Rom. In Athen
und auch andern griechischen Freistaaten wurden
wohl in großer Not bei den Tempelschätzen An-
leihen gemacht, da man sich scheute, durch deren
Aneignung die Götter zu berauben. Immerhin
waren dies erzwungene Darlehen, die auch sonst
in verschiedener Weise, namentlich als Zahlungs-
rückstände, vorkamen. In den Staaten, die sich
im Okzident aus den Trümmern des römischen
Reichs bildeten, standen andere Verhältnisse der
Entstehung eigentlicher Staatsschulden entgegen.
Bei dem Sinn der herrschenden Germanen für
individuelle Freiheit war der Staatsverband an-
fänglich ein loser. Die Macht des Staatsober=
haupts beruhte wesentlich auf dem Besitz von
Staatsgütern und Gütern des fürstlichen Hauses.
Direkte Besteuerung duldeten die Freien ohne ihre
Zustimmung nicht. Erst nach und nach bildeten
sich ausgedehntere fiskalische Hoheitsrechte aus.
Außerordentliche Geldbedürfnisse des Fürsten
nötigten ihn wohl, Schulden zu kontrahieren,
aber sie hatten noch den Charakter von Privat-
schulden des Fürsten. Zur Sicherheit der Gläu-
biger wurden Wertobjekte, Güter, Einkünfte oder
ganze Gebietsteile verpfändet, deren Nutzung bis
zur vorbehaltenen Wiedereinlösung meist den
Gläubigern überlassen wurde, da der Bezug von
Darlehenszinsen nach der damaligen kirchlichen
Anschauung unerlaubt war. Manche Verände-
rungen in den landesherrlichen Territorien, be-
sonders in Deutschland, sind dadurch entstanden,
weiterung der Staatsaufgaben, mit der Entwick
lung des Verkehrslebens und der verfassungs-
daß ein Landesherr dem andern Geld geliehen
hatte und letzterer das verpfändete Gebiet nicht
zur bestimmten Frist wieder einlösen konnte. In
den italienischen Städterepubliken wurden übrigens
schon früh verzinsliche, meist erzwungene Anleihen
gemacht.
Nachdem die monarchischen Staaten ein festeres
Gefüge mit ständischer Gliederung erhalten hatten
und die Stände häufig in den Fall kamen, sich
direkte Besteuerung auszuerlegen, um dem Fürsten
für staatliche Zwecke Beihilfe zu leisten, entstanden
neben den fürstlichen (in Deutschland sog. Kammer-
schulden) auch ständische oder Landesschulden, in-
dem die Stände von dem Landesherrn gemachte