Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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unterscheidet, in derjenigen der Nachlommen des 
letzten Inhabers der Krone, die Thronfolge in der 
Weise vor sich gehe, wie sie in der ersten Klasse 
der Intestaterben nach römischem Recht erfolgt, 
nur daß heutzutage, wie schon erwähnt, keine 
Länderteilungen mehr vorkommen, da man sich 
überall der Erstgeburtordnung zugewendet hat. 
Dagegen bestehen hinsichtlich der Thronfolge der 
eitenderwandt sch Anschauungen. Dar- 
über ist man zwar einig, daß nur solche Seiten- 
verwandte zur Nachfolge berufen werden können, 
welche zugleich Nachkommen des ersten Thron- 
inhabers sind, und daß die volle Geburt (die Ab- 
stammung auch von der nämlichen Mutter) kein 
Vorzugsrecht vor der halben Geburt begründe; 
in anderer Hinsicht bestehen aber Meinungsver- 
schiedenheiten. Es sind nämlich bezüglich der 
Reihenfolge, in welcher die Seitenverwandten zur 
Thronfolge zu berufen sind, beträchtlich vonein- 
ander abweichende Grundsätze aufgestellt worden: 
die einen wollten die Gradesnähe als einzig aus- 
schlaggebend gelten lassen, während andere sich für 
die ausschließliche Berücksichtigung der Nähe der 
Linien (das sog. reine Linealsystem) ausgesprochen 
und noch andere sich dafür erklärt haben, daß die 
Nähe der Linien und der Grade zugleich in Be- 
tracht gezogen werden müsse, und somit das sog. 
gemischte oder Linealgradualsystem zur Anwen- 
dung bringen wollen, wonach der dem Grad nach 
nächste Erbe der dem Erblasser nächststehenden 
linea zur Thronfolge berufen wird. Gegenwärtig 
ist in den meisten regierenden Häusern Europas 
die linealische Erstgeburtordnung der 
Agnaten zum Gesetz erhoben worden; es ist also 
das reine Linealsystem in der Art ausgestaltet 
worden, daß unter gleich nahen Erbfolgeberech- 
tigten die Erstgeburt den Ausschlag gibt. Es ge- 
staltet sich demmach die Thronfolge so, daß der 
erstgeborne männliche Erbe der nächsten Linie vor 
den zu den entfernteren Linien gehörigen Erbbe- 
rechtigten den Vorzug hat und daß, gerade so wie 
in der Klasse der Nachkommen des Erblassers, bei 
der Bestimmung der Person dieses Erben das Re- 
präsentationsrecht zur Anwendung gelangt, d. h. 
daß der dem Grad nach entferntere Erbe an die 
Stelle des verstorbenen rückt. Auf diese Art ist 
die Thronfolge durch die einschlägigen gesetzlichen 
Bestimmungen Badens, Bayerns, Hessens, Oster- 
reichs, Preußens, Württembergs und anderer 
Staaten geordnet worden. 
In gewissen Staaten ist, wie schon kurz erwähnt 
wurde, auch eine weibliche Thronfolge aner- 
kannt. In den alten Zeiten war das, soweit die 
Regierung eines Landes noch als eine amtliche 
Tätigkeit erschien, nicht der Fall, und blieb der 
Weibsstamm in solchen Gebieten von der Thron- 
solge ganz und gar ausgeschlossen. Dem wurde 
aber bald anders. Schon die Mehrzahl der alten 
Volksrechte und dann später der Sachsen= und der 
Schwabenspiegel schlossen bezüglich der Thron- 
solge in die allodialen Stammgüter den Weibs- 
vers 
Thronfolge. 
  
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stamm nicht mehr unbedingt aus. So geschah es, 
daß sich die Anschauung bilden konnte, daß der 
letztere auch zur Thronfolge in den Besitz der allo- 
dialen Herrschaften, in welchen die Regierung als 
eine Folge des vollen Eigentumsrechts an dem Ge- 
biet betrachtet wurde, berufen sei. Endlich wurde 
in der späteren Zeit des römisch-deutschen Reichs 
in den allodialen Gebieten die subsidiäre Thron- 
solge des Weibsstammes in allen denjenigen Fällen 
anerkannt, in welchen sie nicht durch ausdrückliche 
gesetzliche Bestimmungen ausgeschlossen war. Bei 
Lehen war indessen dieser Stamm in den reichs- 
ständischen Häusern nur dann erbberechtigt, wenn 
dieselben Weiber= oder gemeine Erblehen waren, 
d. h. solche Lehen, welche nach bürgerlichem Recht 
vererbt wurden. Heutzutage sind aber nach Auf- 
lösung des alten Reichsverbands alle deutschen 
Staaten allodial geworden, und so ist denn der 
Weibsstamm in denselben gemeinrechtlich als sub- 
sidiär thronfolgeberechtigt zu betrachten. Die 
meisten neueren Verfassungen erkennen sogar diese 
Berechtigung ausdrücklich an, so die von Baden, 
Bayern, Hessen, Sachsen und Württemberg, wäh- 
rend andere, wie z. B. die preußische, darüber 
schweigen, und noch andere, wie die von Olden= 
burg, die weibliche Erbfolge auch nach Erlöschen 
des Mannsstammes nicht eintreten lassen. 
Was nun die Grundsätze anlangt, nach welchen 
sich die weibliche Regierungsnachfolge regelt, so“ 
gelten diesbezüglich gemeinrechtlich oder laut Ver- 
fügung der neueren Verfassungsurkunden im all- 
gemeinen die nämlichen Vorschriften, welche in 
betreff der Thronfolge des Mannsstammes in 
dem betreffenden Staat in Kraft stehen, soweit 
sich nicht ausdrücklich entgegengesetzte gesetzliche 
Bestimmungen finden. So verordnet z. B. die 
bayrische Verfassungsurkunde von 1818, Tit. II, 
8 5 wie folgt: „. geht die Thronfolge auf die 
weibliche Nachkommenschaft nach eben der Erb- 
folgeordnung, welche für den Mannsstamm fest- 
gesetzt ist, über.“ Es müssen nämlich die zur 
Thronfolge berufenen Frauen und deren Nach- 
kommen so betrachtet werden, als wären jene 
Männer und diese Agnaten, indem beide ein 
Recht der Männer und der Agnaten geltend zu 
machen berufen erscheinen. So werden denn, in- 
wieweit nicht andere gesetzliche Anordnungen Platz 
greisen, die dem letzten Inhaber des Throns 
nächste Prinzessin, die sog. Erbtochter (und zwar 
unter mehreren gleich nahen die erstgeborne), und 
deren Nachkommen vor den bereits in früheren 
Thronfolgefällen übergangenen Frauen der Seiten- 
linien und deren Nachkommen berufen. Das ist 
heutzutage unbestritten. Früher sind aber mitunter 
andere Anschauungen geltend gemacht worden und 
haben auf Grund derselben erhobene Rechlsan- 
sprüche, z. B. nach dem Erlöschen des habsburgi- 
schen Mannsstammes im Jahr 1750, zum öster- 
reichischen Erbfolgekrieg geführt, indem Bayern 
mit Berufung auf die Ansprüche einer Regredient- 
erbin den Besitz der österreichischen Erblande an-
	        
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