Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Hinweis auf die außergewöhnliche Lage des Lan- 
des, deutlich auf die Folgen ihrer Nichtannahme 
hinweisend. Der 2. Dez. fand ihn auf seinem 
Posten; er wohnte der Versammlung auf der 
Mairie des zehnten Arrondissements bei, unter- 
zeichnete alle ihre Resolutionen; er wurde von dort 
mit 200 Deputierten nach der Kaserne am Quai 
d'Orsay, dann in der Nacht zum 3. Dez. nach 
Vincennes gebracht. 
Tocquevilles politische Laufbahn war zu Ende; 
ein Parlament und eine Republik gab es nicht mehr. 
Auch aus dem Generalrat des Departements La 
Manche, dessen Präsident er war, schied er nach 
Verweigerung des Eids für das neue Staats- 
oberhaupt. In der Einsamkeit, auf Schloß Toc- 
queville, „in dem Frieden der Heimat und der 
Freude der Wissenschaft“, in tieferer Sammlung 
und neuen Studien wurde Tocqueville erst vollends 
sich bewußt, wie tiefgreifend die Stürme der letzten 
Jahre auf die Umbildung seiner An- 
schauungen eingewirkt hatten. Seine bisherige 
Ideenwelt war erschüttert, aber er war der Wahr- 
heit näher gekommen. 
So entstanden seine Forschungen über den 
Charakter und das Entstehen der Revolution 
von 1789, als dem Beginn der noch fortdauern- 
den und in ihrem Verlauf unübersehbaren sozialen 
Umwälzungen seiner eignen Zeit. Die Literatur 
des 18. Jahrh. in weitestem Umfang behufs Fest- 
stellung und Kontrolle der öffentlichen Meinung 
dieser Zeit, die Akten der Provinzial= und Land- 
stände, die Cahiers der Stände von 1789, die 
Staatsverwaltung des ancien régime nach den 
Pariser Archiven und besonders die Akten des 
reichsten Archivs, des der Intendantur Tours, 
ein längerer Aufenthalt (1853) in der Tou- 
raine (Saint-Cyr), in Deutschland (Bonn, April 
1854) und England beschäftigten ihn bis zu 
Ende 1855. 
Im Frühjahr 1856 erschien sein zweites 
Hauptwerk: L'Ancien Régime et la Revo- 
lution, worin er über den Fortschritt und die 
Vertiefung seiner politisch-sozialen Ideen Rechen- 
schaft ablegte mit dem Hinweis (Vorwort), daß 
wer ein Mann des Fortschritts sei, auch ein Mann 
der Überlieferung sein müsse. Seine Anschau- 
ungen von der Zukunft faßte er in folgender Schluß- 
folgerung zusammen: „Inmitten der Dunkelheiten 
der Zukunft lassen sich bereits drei Wahrheiten 
klar unterscheiden: zuerst daß eine unbekannte 
Macht, die man zu regeln und zu mäßigen, nicht 
zu besiegen hoffen darf, die Menschen unserer 
Tage fortreißt, bald langsam bald sich über- 
stürzend, zur Vernichtung der Aristokratie; dann 
daß unter allen Gesellschaften der Welt gerade die- 
jenigen die größten Anstrengungen machen, der ab- 
soluten Regierungsweise zu entgehen, welche keine 
Aristokratie mehr haben und haben können: endlich 
daß der Despotismus nirgends verderbnisvoller 
wirkt als in diesen Gesellschaften.“ War das nicht 
der Verzicht auf den demokratischen Zukunftsstaat? 
Tocqueville. 
  
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Tocqueville als einer der ersten zerstörte die 
Legende der Revolution von 1789 und 
ihrer „Errungenschaften“, die Thiers den Män- 
nern der Julirevolution noch einmal vorgezaubert 
hatte. Das vorrevolutionäre Frankreich schloß in 
seinen politischen und administrativen Zuständen 
die Grundlage seiner sozialen Umbildung in sich; 
die Revolution in ihrer Neuerungssucht übertrieb 
und fälschte dieselbe; aus einem desorganisierten 
Frankreich schuf sie das revolutionäre; die „Er- 
rungenschaften“ der Revolution sind nur gewalt- 
same Neuerungen. Daß hinter dem ancien ré- 
gime ein neues Frankreich gestanden, von dem die 
Revolution nur die Ausartungen überliefert: Zen- 
tralisation, Beamtenwillkür, gehässigen Bureau= 
kratismus, Stellenjägerei, die Konskription, das 
Übergewicht der Pariser Sitten und Gepflogen- 
heiten, die Eigentumszersplitterung — das wird in 
vorrevolutionären klassischen Zügen nachgewiesen, 
aber von den Ursachen dieser Erscheinungen und 
damit von den tiefsten und eigentlichen Ursachen 
der Revolution wird nur gelegentlich, nur vorüber- 
gehend gesprochen. Daß „trotz aller Fortschritte 
der Zivilisation die Lage der französischen Bauern 
im 18. Jahrh. oft schlimmer war, als sie im 13. 
gewesen“; daß der volkstümliche Geist der innern 
französischen Politik seit dem Hugenottismus, zu- 
mal seit Richelieu, dem der Ausbeutung und Ver- 
achtung der Volksklassen gewichen sei; daß das 
verlogene Philosophengeschwätz über die Tugend 
des Volks und seine unschuldigen Vergnügungen 
noch unter den blutigen Orgien von 1793 in 
Blüte stand; daß und wie die nichtswürdigste 
Literatenclique die politischen Geschicke des Lands 
nach ihren niedrigsten Instinkten leiten konnte, 
alles das ist unübertrefflich scharf und belehrend 
von Tocqueville dargelegt, aber das entscheidende 
Wort für die vollgültige Erklärung der Ver- 
irrungen der Revolution, für die Verbrechen des 
götzendienerischen Vernunftkults, der blutigen 
Glaubensverfolgung und der Fälschung des poli- 
tischen Geistes findet er nicht. Immerhin weist 
er darauf hin, wie das große Befreiungswerk der 
christlichen Zivilisation durch niedrige Unter- 
drückungssucht im Bund mit dem Geist der Lüge 
gefährdet, dann in einem Wutanfall beseitigt 
wurde. „Man fiel mit einer Art Wut über die 
christliche Religion her, ohne auch nur den Versuch 
eines Ersatzes zu machen; in ruheloser und un- 
unterbrochener Arbeit zertrümmerte man in den 
Seelen den Glauben, der sie ausgefüllt, und ließ 
sie leer und elend. Der Geist Voltaires war 
lang vor ihm in der Welt, darum konnte Voltaire 
selbst später über das Frankreich des 18. Jahrh. 
herrschen“ (Ancien Régime III, c. 2). Ebenso 
war es mit dem Kampf gegen alle traditionellen 
Grundlagen des politischen Lebens: die Re- 
volution bahnte dem schamlosesten Despotismus 
und dem Sozialismus den Weg; diese Ideologen 
mit ihren „chinesischen Idealen“, ruft Tocqueville 
und zeigt (a. a. O. III, c. 3) unter dem Hinweis
	        
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