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auf Morellys Code de la nature (1755), daß
Gütergemeinschaft, absolute Gleichheit, Zwangs-
erziehung der Kinder vom fünften Jahr an,
willenlose, mechanische Unterordnung der Einzel-
persönlichkeit unter die geträumte französische
Mandarinenherrlichkeit Ideen waren, welche die
Revolution von 1789 nicht erfunden, sondern nur
eine Rotte neuerungssüchtiger Politiker skrupellos,
mit wahnwitziger Hast und schamlosem Fanatis=
mus als die „Befreiung der Menschheit“ in Szene
gesetzt hat.
Das waren Darlegungen, welche Tocqueville
weit über die bisherigen Anschauungen der Wahr-
heit nahe brachten. Würde die von ihm angekün-
digte Fortsetzung des Ancien Régime ihm die
volle Wahrheit gebracht haben? Er fand nicht
mehr die Zeit dazu, der Lebensabend war da.
Inmitten nicht enden wollender Familientrauer,
bitterer politischer, zum Teil persönlicher Demüti-
gungen, körperlicher Hinfälligkeit, schwerer, sein
äußeres Leben berührender Schicksale raffte seine
ungebeugte Denk= und Schaffenskraft sich immer
wieder auf. Sein herrlicher Briefwechsel (s. u.)
zeigt, wie nahe er dem inneren Glaubensleben
der Kirche bereits gekommen war. Im Juni 1858
—e er war mit der Ausarbeitung des zweiten Bandes
des Ancien Régime beschäftigt und hatte einen
dritten Band skizziert — befiel ihn aufs neue sein
Leiden (Blutbrechen); in Cannes suchte er Er-
holung. Dort starb er am 16. April 1859, nach-
dem er auch praktisch den Anschluß an die Kirche
wieder gesunden hatte.
Tocquevilles früher Tod ließ das Werk seines
Lebens unvollendet; den in seiner Art einzigen
staatswissenschaftlichen Versuch seines Jahrhun-
derts, eine Aussöhnung der liberalen Idee mit
der Kirche, ließ er ohne das letzte, entscheidende
Wort. Seine Bedeutung beruht darin, daß
er das größte Problem seiner Zeit — es war auch
im Grund das Problem des eignen Lebens —
tiefer erfaßt, besser beleuchtet, mit den höchsten
ihm eignen Geistesgaben unermüdlich durchforscht,
an seiner Lösung unverdrossener bis an seinen
Tod gearbeitet hat als irgend einer der Zeit-
genossen. Daher sein seltener Ruhm, sein bis
heute in Geltung stehendes autoritatives Ansehen
in der Sozialforschung unserer Tage. Er war der
Mann einer Idee, der freiheitlichen Verwirk.-
lichung der sozialen Gleichberechtigung aller Klassen
der modernen Gesellschaft, und dieser Idee diente
er mit der Treue eines mutigen Soldaten bis
zum Ende. Ein selten reiner, edler, selbstloser
Charakter unter den Staalsmännern der Juli-
monarchie, stand und hielt er sich mit vollendetem
Unabhängigkeitssinn auf einer Höhe, die ihn die
Fehler der Juliregierung, ihren selbstverschuldeten
Ruin früher und besser als ihre berufenen An-
wälte erkennen und die ihn mitten in diesem Ruin
den einzig noch gangbaren Weg zur Rettung
wenigstens eines freiheitlichen Verfassungslebens
suchen und finden ließ. Zu spät und für nur zu
Tocqueville.
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kurze Zeit trat er an die Stelle, wo seine hohe
politische Rechenkunst ihn hätte behaupten können.
Seine Haltung unter der Julimonarchie und unter
der zweiten Republik als politischen Eklektizismus
zu bezeichnen, verrät völlige Unkenntnis seiner
Sozialanschauungen, für welche die Regierungs-
formen nur sekundären, wenn auch immer hohen
Wert in Bezug auf das äußere Leben des Ge-
sellschaftsorganismus haben.
Tocqueville bewährte sich wie in der Politik so
in seinem Leben als ein harmonisch durchgebil-
deler, die Versöhnung der Gegensätze in einer
höheren Einheit suchender Charakter. Bei
ihm war das Verstands= und das Gemütsleben
gleich stark, gleich nachhaltig durchgebildet. Das
heutige Bildungswesen mit seiner hypertrophischen
Verstandskultur hielt er für eine Verirrung, Ver-
elendung der Menschenseele, die sie unfähig mache,
den Wert der Dinge nach ihrem höchsten, dem
sittlichen Maßstab zu schätzen. Die Doktrinäre
hielt er für die unfruchtbarsten aller Politiker,
weil sie in Wissenschaft und Leben trennen, was
für immer vereint bleiben muß, für die gefähr-
lichsten, weil ihr Ehrgeiz sich in stolzen und leeren
Theorien gefalle, die mit dem praktischen Leben
nichts gemein hätten. In allem lebte er hohen
ethischen Zielen, in ihnen suchte er seines Wissens
Kern und Stern. In der Einleitung zur Démo-
cratie schrieb er: „Wer die Demokratie unter-
richtet, ihren religiösen Glauben neu belebt, ihre
Sitten reinigt, ihr Ungestüm regelt, ihrer Uner-
fahrenheit mit der Wissenschaft des Lebens zu
Hilfe kommt, ihren blinden Instinkten mit der
Erkenntnis ihrer wahren Interessen das rechte
Ziel weist, wer ihre Regierung der Zeit und dem
Ort anpaßt und je nach den Umständen und
Menschen einrichtet, erfüllt die erste aller den
heutigen Regierern auferlegten Pflichten. Wir
bedürfen für eine ganz neue Welt einer Erneue-
rung der politischen Wissenschaft.“
Tocquevilles Klagen über das Geringe, welches
er für diese Erneuerung getan, erschüttern bei
einem solchen Mann der Pflicht und lebenslangen
Arbeit; seine Irrungen, zumal in der ersten Hälfte
seines Lebens, schwächten die rechte Pflichterfüllung.
Daran trugen die skeptische Trübung seines Seelen-
lebens, mangelhafte religiöse Durchbildung, die
Ubermacht des liberalen Zeitgeistes die Haupt-
schuld. War deshalb seine Lebensarbeit unag
Die Gerechtigkeit sordert, über den Fehlern dieser
Arbeit nicht ihren tieferen Gehalt und ihr Ziel
aus den Augen zu verlieren.
Die Kritik von Tocquevilles politisch-sozialen
Einzelaufstellungen hat ihm besonders seine
amerikanistische Auffassung der europäischen Ver-
hältnisse vorgeworfen. Noch tiefer gehend erweisen
sich die Irrungen seiner religiösen Anschau-
ungen, die in den axiomatisch behandelten, immer
wiederkehrenden Thesen Ausdruck finden: die
Demokratie kann ohne die Religion nicht be-
stehen, und: die Religion kann nur im Anschluß