Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

479 
auf Morellys Code de la nature (1755), daß 
Gütergemeinschaft, absolute Gleichheit, Zwangs- 
erziehung der Kinder vom fünften Jahr an, 
willenlose, mechanische Unterordnung der Einzel- 
persönlichkeit unter die geträumte französische 
Mandarinenherrlichkeit Ideen waren, welche die 
Revolution von 1789 nicht erfunden, sondern nur 
eine Rotte neuerungssüchtiger Politiker skrupellos, 
mit wahnwitziger Hast und schamlosem Fanatis= 
mus als die „Befreiung der Menschheit“ in Szene 
gesetzt hat. 
Das waren Darlegungen, welche Tocqueville 
weit über die bisherigen Anschauungen der Wahr- 
heit nahe brachten. Würde die von ihm angekün- 
digte Fortsetzung des Ancien Régime ihm die 
volle Wahrheit gebracht haben? Er fand nicht 
mehr die Zeit dazu, der Lebensabend war da. 
Inmitten nicht enden wollender Familientrauer, 
bitterer politischer, zum Teil persönlicher Demüti- 
gungen, körperlicher Hinfälligkeit, schwerer, sein 
äußeres Leben berührender Schicksale raffte seine 
ungebeugte Denk= und Schaffenskraft sich immer 
wieder auf. Sein herrlicher Briefwechsel (s. u.) 
zeigt, wie nahe er dem inneren Glaubensleben 
der Kirche bereits gekommen war. Im Juni 1858 
—e er war mit der Ausarbeitung des zweiten Bandes 
des Ancien Régime beschäftigt und hatte einen 
dritten Band skizziert — befiel ihn aufs neue sein 
Leiden (Blutbrechen); in Cannes suchte er Er- 
holung. Dort starb er am 16. April 1859, nach- 
dem er auch praktisch den Anschluß an die Kirche 
wieder gesunden hatte. 
Tocquevilles früher Tod ließ das Werk seines 
Lebens unvollendet; den in seiner Art einzigen 
staatswissenschaftlichen Versuch seines Jahrhun- 
derts, eine Aussöhnung der liberalen Idee mit 
der Kirche, ließ er ohne das letzte, entscheidende 
Wort. Seine Bedeutung beruht darin, daß 
er das größte Problem seiner Zeit — es war auch 
im Grund das Problem des eignen Lebens — 
tiefer erfaßt, besser beleuchtet, mit den höchsten 
ihm eignen Geistesgaben unermüdlich durchforscht, 
an seiner Lösung unverdrossener bis an seinen 
Tod gearbeitet hat als irgend einer der Zeit- 
genossen. Daher sein seltener Ruhm, sein bis 
heute in Geltung stehendes autoritatives Ansehen 
in der Sozialforschung unserer Tage. Er war der 
Mann einer Idee, der freiheitlichen Verwirk.- 
lichung der sozialen Gleichberechtigung aller Klassen 
der modernen Gesellschaft, und dieser Idee diente 
er mit der Treue eines mutigen Soldaten bis 
zum Ende. Ein selten reiner, edler, selbstloser 
Charakter unter den Staalsmännern der Juli- 
monarchie, stand und hielt er sich mit vollendetem 
Unabhängigkeitssinn auf einer Höhe, die ihn die 
Fehler der Juliregierung, ihren selbstverschuldeten 
Ruin früher und besser als ihre berufenen An- 
wälte erkennen und die ihn mitten in diesem Ruin 
den einzig noch gangbaren Weg zur Rettung 
wenigstens eines freiheitlichen Verfassungslebens 
suchen und finden ließ. Zu spät und für nur zu 
Tocqueville. 
  
480 
kurze Zeit trat er an die Stelle, wo seine hohe 
politische Rechenkunst ihn hätte behaupten können. 
Seine Haltung unter der Julimonarchie und unter 
der zweiten Republik als politischen Eklektizismus 
zu bezeichnen, verrät völlige Unkenntnis seiner 
Sozialanschauungen, für welche die Regierungs- 
formen nur sekundären, wenn auch immer hohen 
Wert in Bezug auf das äußere Leben des Ge- 
sellschaftsorganismus haben. 
Tocqueville bewährte sich wie in der Politik so 
in seinem Leben als ein harmonisch durchgebil- 
deler, die Versöhnung der Gegensätze in einer 
höheren Einheit suchender Charakter. Bei 
ihm war das Verstands= und das Gemütsleben 
gleich stark, gleich nachhaltig durchgebildet. Das 
heutige Bildungswesen mit seiner hypertrophischen 
Verstandskultur hielt er für eine Verirrung, Ver- 
elendung der Menschenseele, die sie unfähig mache, 
den Wert der Dinge nach ihrem höchsten, dem 
sittlichen Maßstab zu schätzen. Die Doktrinäre 
hielt er für die unfruchtbarsten aller Politiker, 
weil sie in Wissenschaft und Leben trennen, was 
für immer vereint bleiben muß, für die gefähr- 
lichsten, weil ihr Ehrgeiz sich in stolzen und leeren 
Theorien gefalle, die mit dem praktischen Leben 
nichts gemein hätten. In allem lebte er hohen 
ethischen Zielen, in ihnen suchte er seines Wissens 
Kern und Stern. In der Einleitung zur Démo- 
cratie schrieb er: „Wer die Demokratie unter- 
richtet, ihren religiösen Glauben neu belebt, ihre 
Sitten reinigt, ihr Ungestüm regelt, ihrer Uner- 
fahrenheit mit der Wissenschaft des Lebens zu 
Hilfe kommt, ihren blinden Instinkten mit der 
Erkenntnis ihrer wahren Interessen das rechte 
Ziel weist, wer ihre Regierung der Zeit und dem 
Ort anpaßt und je nach den Umständen und 
Menschen einrichtet, erfüllt die erste aller den 
heutigen Regierern auferlegten Pflichten. Wir 
bedürfen für eine ganz neue Welt einer Erneue- 
rung der politischen Wissenschaft.“ 
Tocquevilles Klagen über das Geringe, welches 
er für diese Erneuerung getan, erschüttern bei 
einem solchen Mann der Pflicht und lebenslangen 
Arbeit; seine Irrungen, zumal in der ersten Hälfte 
seines Lebens, schwächten die rechte Pflichterfüllung. 
Daran trugen die skeptische Trübung seines Seelen- 
lebens, mangelhafte religiöse Durchbildung, die 
Ubermacht des liberalen Zeitgeistes die Haupt- 
schuld. War deshalb seine Lebensarbeit unag 
Die Gerechtigkeit sordert, über den Fehlern dieser 
Arbeit nicht ihren tieferen Gehalt und ihr Ziel 
aus den Augen zu verlieren. 
Die Kritik von Tocquevilles politisch-sozialen 
Einzelaufstellungen hat ihm besonders seine 
amerikanistische Auffassung der europäischen Ver- 
hältnisse vorgeworfen. Noch tiefer gehend erweisen 
sich die Irrungen seiner religiösen Anschau- 
ungen, die in den axiomatisch behandelten, immer 
wiederkehrenden Thesen Ausdruck finden: die 
Demokratie kann ohne die Religion nicht be- 
stehen, und: die Religion kann nur im Anschluß
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.