Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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krankt, da der Verstand unter dem Zwang der 
Denkgesetze unfrei ist und dem nötigenden Einfluß 
der Evidenz machtlos unterliegt. Die Freiheit zu 
denken, was man will, findet ihre natürliche und 
unübersteigliche Schranke an der Allgewalt der 
einleuchtenden Wahrheit, welche gegen den Irrtum 
objektiv genau so intolerant ist — es ist die In- 
toleranz des Prinzips des Widerspruchs —, wie 
ihre beiderseitigen Vertreter objektiv keine Duldung 
kennen. Der Kampf der Weltanschauungen sicht 
sich ja nicht von selbst aus in der Luft, sondern 
wird von irdischen Kämpfern zum Austrag ge- 
bracht, die Fleisch und Bein besitzen. Was von 
der „Denkfreiheit“ gesagt wurde, das hat auch 
für die subjektive „Glaubensfreiheit“, d. h. die 
Freiheit zu glauben, was man will, sinngemäße 
Geltung. Denn wenn es unter den zahllosen Re- 
ligionen der Erde nach dem Gesetz des Wider- 
spruchs nur einen wahren Glauben geben kann, 
so steht der nach Wahrheit forschende Mensch unter 
dem ethischen Zwang, alle falschen Religionen ab- 
zuweisen und nur jener bedingungslos sich zu- 
zuwenden, welche er als die allein wahre und folg- 
lich allein berechtigte erkannt hat. In voller Uber- 
einstimmung mit diesem Grundsatz hat deshalb 
Papst Gregor XVI. in seiner Enzyklika „Mlrari 
vos"“ vom 15. Aug. 1832 gegenüber dem Fran- 
zosen De Lamennais den religiösen Indifferentis- 
mus als falsch verworfen, nämlich „jene verkehrte 
Ansicht, wonach man durch jedes beliebige Glau- 
bensbekenntnis (qualibet fidei professione) sein 
Seelenheil gewinnen könne, wofern man nur sein 
Leben nach der Norm des Rechten und Sittlichen 
Toleranz. 
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(s. Denzinger a. a. O. u. 1677). — Unter 
der praktisch-bürgerlichen Toleranz 
versteht man die persönliche Hochachtung und 
Liebe, welche man nach dem strengen Gebot der 
christlichen Nächstenliebe auch den Andersgläubigen 
zu erweisen verpflichtet ist. Und weil der schuld- 
lose Irrtum sich steigern kann bis zur festesten und 
ehrlichsten Uberzeugung, so kann und muf der ein- 
zelne die religiöse Uberzeugung seines Neben- 
menschen, so abwehrend er ihr auch innerlich gegen- 
überstehen mag, nicht bloß schonend behandeln, 
sondern auch Achtung dafür bezeigen. Das Inner- 
lichste, was der Mensch besitzt, ist seine Religion, 
das Kleinod seines Herzens, das er eifersüchtig 
liebt und schützt wie ein Heiligtum. In dieses 
Heiligste mit roher Hand eingreifen ist das sichere 
Kennzeichen roher Gesinnung und des Mangels 
an sittlicher Reife. Sogar die Anhänger einer 
heidnischen, also offensichtlich falschen Religion 
haben Anspruch auf zarte Schonung ihrer Gefühle 
und sollten durch Unterweisung und gutes Bei- 
spiel statt durch Spottsucht und Verhöhnung zur 
besseren Einsicht bekehrt werden. Das gleiche Maß 
von Achtung, das der Christ für seine Religion 
vom Nichtchristen fordert, gebührt auch dem Be- 
kenntnis des letzteren, weshalb Papst Gregor IX. 
in seinem Schreiben an die französischen Bischöfe 
vom 6. April 1233 als Grundregel für das Be- 
nehmen der Christen gegen die Juden empfahl 
(bei Auvray, Le régistre de Grégoire IX. n. 
126): Est antem ludaeis a Christianis ex- 
hibenda benignitas, qguam Christianis in 
l . . . . . . 
Paganismo existentibus cupimus exhiberi. 
  
einrichte“ (s. Denzinger-Bannwart, Enchiridion! Der gute Glaube der Irrenden ist solange voraus- 
Iu#19111| n. 1613). Wenn sodann der Papst die zusetzen, bis die klarsten Gegenbeweise vorliegen. 
„aus solcher Pfütze fließende Gewissensfreiheit“! Allein auch dann darf die christliche Liebe niemals 
einen Irrtum, ja „Unsinn“ (deliramentum) verletzt werden, sondern das letzte Urkeil steht dem- 
nennt, so wird auch ein bibelgläubiger Protestant jenigen zu, der „die Herzen und Nieren durch- 
von seinem Standpunkt aus dieses päpstliche Urteil forscht". Vornehme Erziehung, menschenfreund- 
kaum zu hart finden. Ganz ungerechtfertigt aber liche Gesinnung, feinfühliger Takt, vertrauter Um- 
ist es, das kirchliche Verdammungsurteil sofort auf gang mit Menschen helfen hier viel schneller die 
das heterogene Gebiet der sogleich zu besprechen= richtige Mitte treffen als gelehrtes Wissen, einseitige 
den staatlich-politischen Toleranz hinüberzuspielen Lebensauffassung, Absperrung von Land und 
und die Kirche auf den „vorreformatorischen 
Standpunkt“ des Glaubenszwangs festzunageln 
(vgl. Realenzyklopädie für protestantische Theo- 
logie XIX 1"1907) 833). Was hat die Ver- 
werfung des auf alle Fälle unsittlichen Indifferen- 
tismus mit der auf einem ganz andern Gebiet 
liegenden Staatsmaxime allgemeiner Gewissens- 
freiheit für verschiedengläubige Staatsbürger zu 
schaffen? Gegen diese letztere Art von Religions- 
freiheit kann die katholische Kirche um so weniger 
etwas einwenden, als Papst Pius IX. in seiner 
Enzyklika „Quanto conficiamur mocrore“ vom 
10. Aug. 1863 ausdrücklich den Grundsatz als 
„bekannt“ aufstellt, daß Nichtkatholiken, welche in 
unüberwindlicher Unwissenheit betreffs der katho- 
lischen Religion befangen sind und im übrigen das 
natürliche Sittengesetz beobachten, mit Hilfe der 
göttlichen Gnade das ewige Leben erlangen können 
Leuten, Abgeschlossenheit in einem bestimmten 
religiösen Milien. Wer durch weite Reisen und 
ungezwungenen Verkehr Welt und Menschen 
kennen gelernt hat, der wird nicht leicht zum 
„Ketzerriecher“; ein solcher paßt nicht in unsere 
moderne Welt (s. J. Balmes, Protestantismus 
und Katholizismus in ihren Beziehungen zur 
europäischen Zivilisation, übersetzt von F. X. Hahn 
Bd 1l1861)] 385 ff). — Der Staat nimmt na- 
turgemäß zu den in seinem Schoß befindlichen 
Religionen eine viel weitherzigere Stellung ein 
als die Kirche. Indem er Individuen wie Reli- 
gionsgesellschaften das Recht zubilligt, ihre innere 
religiöse Uberzeugung nicht bloß still für sich zu 
behalten, sondern auch vor der Offentlichkeit frei 
zu bekennen und unbehelligt in Gebet und 
J Gottesdienst zum sichtbaren Ausdruck zu bringen 
gewährt er als Korrelat der (innern) Glaubené-
	        
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