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freiheit das Recht der Bekenntnis= und Kultus-
freiheit, die man unter dem allgemeineren Namen
der „Religionsfreiheit“ zusammenfaßt. So ent-
steht zunächst die staatlich-politische Tole-
ranz, deren Wesen darin besteht, daß der Staat
den verschiedenen Religionsgesellschaften entweder
durch die beschworene Verfassung oder in besondern
Verträgen oder kraft langen Herkommens mit
Gesetzeskraft gesetzliche Duldung gewährt, die
je nach Umständen bis zur Religionsgleichheit
oder Parität, ja bis zum Vollgenuß aller bürger-
lichen und staatsbürgerlichen Rechte in voller Un-
abhängigkeit vom religiösen Bekenntnis sich stei-
gern kann. Jedoch ist Religionsfreiheit weder mit
der Parität noch mit der Toleranz begrifflich iden-
tisch. Nicht mit ersterer, denn die Errichtung einer
aus allgemeinen Steuern unterhaltenen oder mit
gewissen Vorrechten ausgestatteten Staatskirche,
wie z. B. der Established Church in Eng-
land, würde zwar gegen die Parität gegen-
über Dissidenten, nicht aber gegen die Religions-
freiheit der Staatsbürger überhaupt verstoßen.
Nicht mit letzterer, denn das in der staatlichen
Toleranz ruhende Recht, Religionsfreiheit in
vollem Umfang oder innerhalb gewisser Grenzen
zu gewähren, begreift als Korrelat das weitere
Recht in sich, diese Religionsfreiheit unter Um-
ständen auch staatlich zu versagen oder zu be-
schränken, wie die Toleranzgesetzgebung aller Jahr-
hunderte beweist. Im modernen Rechtsstaat gilt
als Grundsatz nicht bloße Toleranz gegen die Re-
ligionen, sondern das Prinzip völliger Religions-
freiheit.
3. Den drei soeben entwickelten Formen der
Toleranz stehen als Gegensätze ebenso viele Arten
der Intoleranz gegenüber. An erster Stelle
und zu oberst steht die „theoretisch-dogma-
tische Intoleranz“, welche nach früher Ge-
sagtem nichts anderes ist als der innere, obijektive
Kampf der nach Alleinherrschaft ringenden Wahr-
heit gegen den Irrtum oder, auf das Glaubens-=
gebiet übertragen, der unvermeidliche, aus der
Sache selbst entspringende Antagonismus der
wahren gegen alle falschen Religionen. Es gibt
nur ein Einmaleins, und es duldet kein anderes
neben sich. So wenig es zweierlei Wahrheiten
oder ein Mittleres zwischen ja und nein geben
kann, ebensowenig kann die wahre, von Gott selber
vorgeschriebene Religion es sich gefallen lassen, mit
den falschen theoretisch auf gleichem Fuß behandelt
zu werden. Schon an und für sich von der Pflicht
der Wahrheitsliebe gefordert, wird diese Form der
Unduldsamkeit denn auch bei jeder sachlichen Po-
lemik in Wissenschaft, Kunst, Politik und Religion
anstandelos von jedermann geübt und als ein
selbstverständliches Recht in Anspruch genommen.
(Uber Wahrheitsliede s. G. Ratzenhofer, Positive
Ethik (1900] 261, 294). — Verbindet sich da-
gegen mit dieser sittlich erlaubten, ja pflichtmäßigen
Intoleranz gegen die Sache zugleich eine mehr
oder minder gehässige Unduldsamkeit gegen die
Toleranz.
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irrende Person, so kommt die „praktisch-
bürgerliche Intoleranz“ zum Vorschein,
welche als häßliche Untugend und Charaktereigen-
schaft zugleich das Gebot der christlichen Nächsten-
liebe mit Füßen tritt. Der sarkastische Swift hatle
nur zu recht, wenn er meinte: „Von Religion haben
viele gerade genug im Leib, um sich gegenseitig zu
hassen, aber nicht genug, um einander zu lieben“
(j. John S. Mackenzie, An Introduction to
Social Philosophy IGlasgow 1890] 116).
Während der in allen Lebenslagen immer duld-
same Mensch allein liebenswürdig bleibt, wird die
widerliche Erscheinung des Intoleranten von allen
Edelgesinnten mit Recht verabscheut und ge-
mieden. „Die Intoleranz gegen die Sache, die
Nichtanerkennung einer innern Gleichberechtigung
anderer Religionen und Religionsgesellschaften in-
volviert nicht die Intoleranz gegen die Personen;
vielmehr läuft der Exklusivität des Glaubens die
Expansion der Charitas parallel“ (Hugo Lämmer.
Institutionen des kathol. Kirchenrechts (2 1892)
398). Wo vollends Staatsbürger verschiedener
Konfession im selben Gemeinwesen zusammen-
wohnen, da ist gegenseitige Duldung die unerläß-
liche Voraussetzung für den konfessionellen Frieden
und die Grundbedingung gedeihlicher Mitarbeie
an den hohen Aufgaben des Staats. Ein wilder.
staatsverderblicher Krieg aller gegen alle würde
entbrennen wie zur Zeit der blutigen Religions-=
kriege, wenn es den Anhängern verschiedener Be-
kenntnisse unbenommen wäre, nach einem ge-
flügelten Wort Kaiser Wilhelms II. wegen Glau-
bensdifferenzen „sich die Köpfe blutig zu schlagen“.
Der Dreißigjährige Krieg, diese bitterste Frucht
der abendländischen Kirchenspaltung, hat mit seinen
verheerenden Wirkungen der Entvölkerung, Ver-
ödung und Verwilderung unseres deutschen Vater-
lands zur Warnung für alle Zukunft ein weithin
sichtbares Menetekel auf die Wand der Welt-
geschichte geschrieben. — Die „staatlich-poli-
tische Intoleranz“ als dritter Gegensat
äußert sich am schroffsten im Bekenntnis= und
Kultuszwang, wie bei der Durchführung der
Staatsmaxime: Cuius regio, illius et religio.
Da jedoch das äußere Bekenntnis und der litur-
gische Gottesdienst nur den natürlichen und spon-
tanen Ausdruck der ungeheuchelten innern Glau-
bensgesinnung bilden sollen, so ist klar, daß im
staatlichen Religionszwang zugleich eine furchtbare
Vergewaltigung der Gewissen und eine Glaubens-
knechtung schlimmster Art vorliegt. Gleichwohl
leuchtet auch ohne Beweis ein, daß auf das Innere
des Menschen weder die staatliche noch die kirchliche
Gewalt einen physischen Zwang auszuüben ver-
mag. Ins Heiligtum der Gedanken dringt keine
geschaffene Macht; die Herzen hat Gott allein in
seiner Hand. Daher der römische Rechtsgrund-
satzz De internis non iudicat praetor. Weil
jedoch die Kirche — nicht so der Staat — mit
ihrer gottgesetzten Autorität auch bis in die Ge-
wissen hinein regiert, indem sie neben dem Forum