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deren Macht und Einfluß der Staat steht. Zuerst
mag der Staat an sich, sodann der (kaum noch
existierende) katholische Staat ins Auge ge—
faßt werden.
1. Dem Staat an sich als Rechtsstaat liegt
die Aufgabe ob, die äußeren Verhältnisse zum
Nutzen des Gemeinwohls zu beherrschen und allen
von ihm umfaßten Individuen und Korporationen
im Genuß ihrer individuellen, bürgerlichen, poli-
tischen und religiösen Rechte den gleichen Rechts-
schutz zu gewähren. Ihm kann folglich unmöglich
die Rolle zufallen, die Untertanen dem wahren
Glauben zuzuführen oder gar die Verirrten in
den Mutterschoß der Kirche zurückzubringen. Viel-
mehr muß er, sobald mehrere Religionen in ihm
festen Fuß gefaßt und sich eingewurzelt haben,
nicht bloße Toleranz üben, sondern auch die Re-
ligionsfreiheit für Individuen und Religions-
gesellschaften zum Prinzip erheben, welches jedoch
vom Standpunkt des Naturrechts und der christ-
lichen Staatslehre mit einer dreifachen Schranke
zu umziehen ist. '
a) Als Heilmittel gegen die Intoleranz dem
Staat als solchem grundsätzliche Religions-
losigkeit vorschlagen hieße so viel, als die
Wurzeln zerstören, auf denen er selbst ruht
und aus denen er seine ganze Kraft zieht (s. Döl-
linger, Kirche und Kirchen /1861) 93). Denn
ein religionsloser (nicht: konfessionsloser) Staat
mit den „Grundsätzen von 1789“ wäre nichts
anderes als der „Staat ohne Gott“, dem man als
einer unsittlichen Fehlgeburt kühn den sichern
Untergang in Aussicht stellen darf, wie das Bei-
spiel des atheistischen Revolutionsstaats Frankreich
beweist (uvgl. Rauscher, Der Staat ohne Gott
[„18651). Aber nicht bloß der atheistische, auch
der pantheistische Staat Hegels mit der Devise
„Der Staat ist Gott“ ist ein sittliches Monstrum,
da der absolute Staatsgötze, weil die von der Lex
acterna unabhängige Urquelle alles Rechts, nichts
Unrechtes mehr beschließen und tun kann: Das
größte Unrecht wird höchstes Recht. Wenn ohne
die Lebendigkeit von Gottesfurcht und Frömmig-
keit, ohne Gehorsamswilligkeit und Autoritäts-
gefühl, ohne Pfflichttreue und sittliche Ver-
antwortung kein Staat auf die Länge auskommen
kann, so folgt, daß jeder Staat, auch der sog.
Naturstdat, eine religiöse Richtung und Grund-
stimmung annehmen muß, welche letztlich im leben-
digen Gottesglauben wurzelt. Auch der Staat
als die Verkörperung der menschlichen Gesellschaft
ist, wie das Individuum, zur Anerkennung der
Oberherrlichkeit des höchsten Wesens sowie zur Er-
füllung der religiösen Pflichten gegen Gott ge-
halten, wie die Moralphilosophie des näheren dar-
zulegen hat (s. Cathrein a. a. O. II 538 ff). Je
mehr der Staat die religiösen und sittlichen Trieb-
kräfte, die gebunden im Volk leben und nach kräf-
tiger Ausgestaltung verlangen, auslöst und fördert
und schützt, desto mächtiger entwickeln sich auch die
Wurzeln seiner eignen Kraft und festigen sich die
Toleranz.
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Grundlagen seiner Existenz. Die Unmöglichkeit
des Staatsbestands ohne Religion hat schon das
Heidentum erkannt, wie denn Cicero bekennt (De
nat. deor. 1): Pietate sublata fides etiam et
societas humani generis et una excellentis-
sima virtus, iustitia, tollitur. Andere Zeug-
nisse s. bei H. Escher, Handbuch der praktischen
Politik I (1863) 414 ff. Und keinen namhaften
Philosophen, Rechtslehrer und Politiker gibt es,
der die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung
und öffentlichen Sittlichkeit ohne das mächtige
Agens der Religion für möglich hielte. Nicht blot
Staatsmänner wie Montesquien und Guizot, so-
gar Freigeister wie Machiavelli und Voltaire haben
mit Joh. Müller eingesehen, daß „nach der Er-
fahrung aller Völker kein freies Volk ohne Sitten,
noch diese ohne Religion bestehen mögen“ (f.
F. Walter, Naturrecht und Politik im Licht der
Gegenwart [1863) 239). Wenn Fr. Chr. Dahl-
mann im allgemeinen hervorhebt: „Eid und Ehre,
Obrigkeit und Eigentum, selbst die Heiligung ge-
wisser Tage macht die Religion zur Staatssache“
(Politik auf den Grund und das Maß der ge-
gebenen Zustände zurückgeführt (: 1847) 347),
so sagt noch bestimmter v. Treitschke: „Der Eid
ist dem Staat unentbehrlich, wie denn das Fun-
dament aller Rechtsordnung der Glaube an Got:
ist; Atheisten haben im Staatswesen, streng ge-
nommen, keine Stelle“ (Politik 1 (18971 326).
Wie für die Stabilität der ganzen Staats= und
Rechtsordnung, so ist auch für den Schutz der
öffentlichen Sicherheit und Sittlichkeit gerade der
Gottesglaube von grundlegender Bedeutung. Denn
„für den Staat ist es von Wichtigkeit, daß die
Menschen den größtmöglichen Abscheu empfinden
vor dem Laster, und dieser Abscheu vermindert
sich wesentlich mit dem Verschwinden der Idee der
Sünde, diese aber gerät mit der Gottesidee in
Verlust“ (Rickaby S. J., Moral Philosophy or
Ethics and Natural Law [Stonyhurst Series,
Neuyork 218931 364). Ein aus lauter grund-
sätzlichen Atheisten zusammengesetztes Staatswesen
wäre auf den schließlichen Zusammensturz äquili-
briert, da die brutalen Instinkte der niedern
Volksmassen keine Macht der Erde mehr zu zügeln
und zu bändigen vermöchte. Aber selbst geistige
Bildung und äußerer Anstandsfirnis geben kein
ausreichendes Surrogat her, um die lebendige
Tiefe philanthroper Gesinnung, die unerschütter-
liche Treue in der Pflichterfüllung, die Ehrlichkeit
in Handel und Wandel, die aufrichtige Hoch-
achtung vor Recht und Gesetz, die Beobachtung
der Keuschheitsgesetze — lauter Grundbegriffe, die
nur im Theismus Leben und Triebkraft entfalten
— auch nur notdürftig zu ersetzen. Soll nun
vielleicht der Staat die professionellen Atheisten
maßregeln, wie John Locke verlangte? Dies wäre
wohl eine um so ungerechtfertigtere Zumutung,
als gerade die Gebildeten in schweren Krisen und
edlem Ringen sich ihren Gottesglauben vielfach erst
hart erkämpfen müssen (s. C. Chr. Scherer, Die