Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

5 
09 Tole 
b) Ein wesentlich anderes, viel lockereres Ver- 
hältnis zwischen Staat und Kirche ist naturrecht- 
lich gefordert, sobald nach eingetretener Glaubens- 
spaltung verschiedene christliche Konfessionen sich 
in einem Land eingebürgert und häuslich ein- 
gerichtet haben. Dann entsteht der zwar immer 
noch christlich gesinnte, aber interkonfessionelle 
bzw. paritätische Rechtsstaat, welcher — 
ob katholisch oder nicht — das Urrecht des Men- 
schen auf Gewissens= und Glaubensfreiheit ge- 
setzlich zu schützen, gegen alle in ihm vorhandenen 
Glaubensformen innerhalb der früher gezogenen 
Schranken (s. oben IV. 1.) Toleranz zu üben und 
den verfassungsmäßig anerkannten Religions- 
gesellschaften unter Eid und Gewissen volle Parität 
zu gewähren hat. Dieser historisch herangewachsene 
Zustand bedeutet vielleicht auch ethisch einen we- 
sentlichen Fortschritt gegen früher. Denn „wenn 
in einem Punkt der Sittenlehre eine den Verhält- 
nissen angepaßte und durch die Verhältnisse zur 
Pflicht gemachte Modifizierung sittlicher Vor- 
schriften angezeigt erscheint, dann gewiß auf dem 
weitverzweigten Gebiet der Humanität, Toleranz 
und Feindesliebe; alle Völker, die überhaupt eine 
kulturelle und soziale Entwicklung aufzuweisen 
haben, haben auch hier einen ethischen Fortschritt 
zu verzeichnen“ (M. Waldmann, Die Feindes- 
liebe in der antiken Welt und im Christentum 
(1902] 16). Altere Theologen und Staatsrechts- 
lehrer standen auf dem Standpunkt, daß zur staat- 
lichen Gewährung der Religionsfreiheit an Anders- 
gläubige im katholischen Staatswesen erst dann 
geschritten werden dürfe, wenn sich herausgestellt 
habe, daß die Versogung mehr Unheil als Segen 
oder umgekehrt die Gestattung mehr Nutzen als 
Nachteil für das Staatswohl im Gefolge habe. 
Auch der an den Glaubensstaat gewöhnte, etwas 
engherzige Thomas von Aaquin rechtfertigte mit 
Hilfe dieser Maxime die staatliche und kirchliche 
Toleranz gegen jüdische und heidnische Reli- 
gionsgebräuche (S. theol. 2, 2, q. 10, a. 11): 
Ritus infidelium tolerari possunt vel propter 
aliquod bonum. duod ex eis provenit, vel 
propter aliguod malum, quod vitatur . .., 
scil. ad vitandum scandalum vel dissidium . .. 
velimpedimentumsalutis eorum, qui paulatim 
Sic tolerati convertuntur ad fidem. Die ganze 
Frage ist heute, wo es rein katholische Staaten 
ebensowenig mehr gibt als rein protestantische, 
praktisch gegenstandslos geworden, da der moderne 
Rechtsstaat, auch der katholische, nicht mit leeren 
Abstraktionen, sondern mit harten Tatsachen zu 
rechnen hat, die keine noch so fein ausgeklügelte 
Staatstheorie mehr aus der Welt schafft. Die 
historische Rechtsentwicklung, welche zum unan- 
tastbaren, in allen europäischen Staatsverfas- 
sungen kodifizierten Recht auf Glaubensfreiheit 
langsam geführt hat, ist in kurzen Strichen fol- 
gende: Die allmähliche Umwandlung des (katho- 
lischen und evangelischen) Glaubensstaats, wie er 
seit der Reformation noch krampfhaft beibehalten 
ranz. 510 
und auch durch den Westfälischen Frieden 1648 
nicht ganz beseitigt worden war, fällt ins Ende 
des 18. Jahrh. In Osterreich erließ Kaiser Jo- 
seph II. das Toleranzedikt von 1781 für die Pro- 
testanten mit dem Recht auf Privatgottesdienst, 
während die nordamerikanische Union in ihrer 
Verfassungsurkunde von 1787 das Prinzip der 
Religionsfreiheit in vollem Umfang zur Wahrheit 
machte. Als die französische Revolution 1791 den 
gleichen Grundsatz in Europa zuerst deutlich aus- 
sprach, da war das allgemeine Signal zu freiheit- 
licheren Maßnahmen auch für alle übrigen Staa- 
ten gegeben. Nach der Rheinbundsakte von 1806 
wurden den drei großen Religionsparteien (Katho- 
liken, Lutheraner, Reformierte) die gleichen bürger- 
lichen und politischen Rechte zugebilligt, eine Be- 
stimmung, die in die deutsche Bundesakte vom 
8. Juni 1815 überging mit der Verheißung auch 
„der bürgerlichen Verbesserung der Bekenner jüdi- 
schen Glaubens“ (Art. 16). Das norddeutsche 
Bundesgesetz vom 3. Juli 1869 endlich hob in 
einer auch für das neue Deutsche Reich gültigen 
Bestimmung sämtliche noch bestehenden, aus dem 
Religionsbekenntnis hergeleiteten Beschränkungen 
der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte auf. 
Die französische Charte von 1814 bestimmte in 
§ 5: „Jeder bekennt seine Religion mit gleicher 
Freiheit und genießt für seine Gottesverehrung 
den nämlichen Schutz“ (ebenso Verf. 1830, Art. 5; 
1848, § 7). Ahrnlich die holländische Verfas- 
sung § 164: „Jeder bekennt seine religiöse Mei- 
nung mit vollkommener Freiheit.“ Preußische 
Verfassung 1850, § 12: „Die Freiheit des reli- 
giösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Reli- 
gionsgesellschaften und der gemeinsamen häuslichen 
und öffentlichen Religionsübung wird gewähr- 
leistet.“ Näheres s. bei Emil Friedberg, Lehrbuch 
des katholischen und evangelischen Kirchenrechts 
(/1903) 90 ff. Unter mancherlei Beschränkungen, 
die erst in neuerer Zeit durchbrochen wurden, sah 
auch England 1779 sich gezwungen, den Katho- 
liken in Ausübung ihrer Religion Erleichterung 
zu gewähren, nachdem die Dissenters schon seit 
1689 Vergünstigungen sich erzwungen hatten. 
Die Emanzipation der englischen und irischen Ka- 
tholiken schritt im Lauf der Zeit nur langsam 
voran, und selbst heute noch unterliegen sie manchen 
kränkenden Ausnahmebestimmungen, obschon sonst 
England als einer der tolerantesten Staaten der 
Welt gilt. Ein veralteter Auswuchs häßlicher Un- 
duldsamkeit im Krönungseid, dessen Wortlaut eine 
von König Eduard VII. (bei seiner Krönung am 
9. Aug. 1902) selbst peinlich empfundene Schmä- 
hung der katholischen Lehre von der Transubstan- 
tiation enthielt, ist erst im Sommer 1910 durch 
1 Parlamentsakt aus der Welt geschafft worden, so 
daß der neue König Georg V. bei seiner Krönung 
sich einer unanstößigen Formulierung bedienen 
konnte. Eine kurze Übersicht über die noch be- 
stehenden englischen Ausnahmegesetze gegen die 
Katholiken s. in The Catholic Encyclopedia V. 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.