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b) Ein wesentlich anderes, viel lockereres Ver-
hältnis zwischen Staat und Kirche ist naturrecht-
lich gefordert, sobald nach eingetretener Glaubens-
spaltung verschiedene christliche Konfessionen sich
in einem Land eingebürgert und häuslich ein-
gerichtet haben. Dann entsteht der zwar immer
noch christlich gesinnte, aber interkonfessionelle
bzw. paritätische Rechtsstaat, welcher —
ob katholisch oder nicht — das Urrecht des Men-
schen auf Gewissens= und Glaubensfreiheit ge-
setzlich zu schützen, gegen alle in ihm vorhandenen
Glaubensformen innerhalb der früher gezogenen
Schranken (s. oben IV. 1.) Toleranz zu üben und
den verfassungsmäßig anerkannten Religions-
gesellschaften unter Eid und Gewissen volle Parität
zu gewähren hat. Dieser historisch herangewachsene
Zustand bedeutet vielleicht auch ethisch einen we-
sentlichen Fortschritt gegen früher. Denn „wenn
in einem Punkt der Sittenlehre eine den Verhält-
nissen angepaßte und durch die Verhältnisse zur
Pflicht gemachte Modifizierung sittlicher Vor-
schriften angezeigt erscheint, dann gewiß auf dem
weitverzweigten Gebiet der Humanität, Toleranz
und Feindesliebe; alle Völker, die überhaupt eine
kulturelle und soziale Entwicklung aufzuweisen
haben, haben auch hier einen ethischen Fortschritt
zu verzeichnen“ (M. Waldmann, Die Feindes-
liebe in der antiken Welt und im Christentum
(1902] 16). Altere Theologen und Staatsrechts-
lehrer standen auf dem Standpunkt, daß zur staat-
lichen Gewährung der Religionsfreiheit an Anders-
gläubige im katholischen Staatswesen erst dann
geschritten werden dürfe, wenn sich herausgestellt
habe, daß die Versogung mehr Unheil als Segen
oder umgekehrt die Gestattung mehr Nutzen als
Nachteil für das Staatswohl im Gefolge habe.
Auch der an den Glaubensstaat gewöhnte, etwas
engherzige Thomas von Aaquin rechtfertigte mit
Hilfe dieser Maxime die staatliche und kirchliche
Toleranz gegen jüdische und heidnische Reli-
gionsgebräuche (S. theol. 2, 2, q. 10, a. 11):
Ritus infidelium tolerari possunt vel propter
aliquod bonum. duod ex eis provenit, vel
propter aliguod malum, quod vitatur . ..,
scil. ad vitandum scandalum vel dissidium . ..
velimpedimentumsalutis eorum, qui paulatim
Sic tolerati convertuntur ad fidem. Die ganze
Frage ist heute, wo es rein katholische Staaten
ebensowenig mehr gibt als rein protestantische,
praktisch gegenstandslos geworden, da der moderne
Rechtsstaat, auch der katholische, nicht mit leeren
Abstraktionen, sondern mit harten Tatsachen zu
rechnen hat, die keine noch so fein ausgeklügelte
Staatstheorie mehr aus der Welt schafft. Die
historische Rechtsentwicklung, welche zum unan-
tastbaren, in allen europäischen Staatsverfas-
sungen kodifizierten Recht auf Glaubensfreiheit
langsam geführt hat, ist in kurzen Strichen fol-
gende: Die allmähliche Umwandlung des (katho-
lischen und evangelischen) Glaubensstaats, wie er
seit der Reformation noch krampfhaft beibehalten
ranz. 510
und auch durch den Westfälischen Frieden 1648
nicht ganz beseitigt worden war, fällt ins Ende
des 18. Jahrh. In Osterreich erließ Kaiser Jo-
seph II. das Toleranzedikt von 1781 für die Pro-
testanten mit dem Recht auf Privatgottesdienst,
während die nordamerikanische Union in ihrer
Verfassungsurkunde von 1787 das Prinzip der
Religionsfreiheit in vollem Umfang zur Wahrheit
machte. Als die französische Revolution 1791 den
gleichen Grundsatz in Europa zuerst deutlich aus-
sprach, da war das allgemeine Signal zu freiheit-
licheren Maßnahmen auch für alle übrigen Staa-
ten gegeben. Nach der Rheinbundsakte von 1806
wurden den drei großen Religionsparteien (Katho-
liken, Lutheraner, Reformierte) die gleichen bürger-
lichen und politischen Rechte zugebilligt, eine Be-
stimmung, die in die deutsche Bundesakte vom
8. Juni 1815 überging mit der Verheißung auch
„der bürgerlichen Verbesserung der Bekenner jüdi-
schen Glaubens“ (Art. 16). Das norddeutsche
Bundesgesetz vom 3. Juli 1869 endlich hob in
einer auch für das neue Deutsche Reich gültigen
Bestimmung sämtliche noch bestehenden, aus dem
Religionsbekenntnis hergeleiteten Beschränkungen
der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte auf.
Die französische Charte von 1814 bestimmte in
§ 5: „Jeder bekennt seine Religion mit gleicher
Freiheit und genießt für seine Gottesverehrung
den nämlichen Schutz“ (ebenso Verf. 1830, Art. 5;
1848, § 7). Ahrnlich die holländische Verfas-
sung § 164: „Jeder bekennt seine religiöse Mei-
nung mit vollkommener Freiheit.“ Preußische
Verfassung 1850, § 12: „Die Freiheit des reli-
giösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Reli-
gionsgesellschaften und der gemeinsamen häuslichen
und öffentlichen Religionsübung wird gewähr-
leistet.“ Näheres s. bei Emil Friedberg, Lehrbuch
des katholischen und evangelischen Kirchenrechts
(/1903) 90 ff. Unter mancherlei Beschränkungen,
die erst in neuerer Zeit durchbrochen wurden, sah
auch England 1779 sich gezwungen, den Katho-
liken in Ausübung ihrer Religion Erleichterung
zu gewähren, nachdem die Dissenters schon seit
1689 Vergünstigungen sich erzwungen hatten.
Die Emanzipation der englischen und irischen Ka-
tholiken schritt im Lauf der Zeit nur langsam
voran, und selbst heute noch unterliegen sie manchen
kränkenden Ausnahmebestimmungen, obschon sonst
England als einer der tolerantesten Staaten der
Welt gilt. Ein veralteter Auswuchs häßlicher Un-
duldsamkeit im Krönungseid, dessen Wortlaut eine
von König Eduard VII. (bei seiner Krönung am
9. Aug. 1902) selbst peinlich empfundene Schmä-
hung der katholischen Lehre von der Transubstan-
tiation enthielt, ist erst im Sommer 1910 durch
1 Parlamentsakt aus der Welt geschafft worden, so
daß der neue König Georg V. bei seiner Krönung
sich einer unanstößigen Formulierung bedienen
konnte. Eine kurze Übersicht über die noch be-
stehenden englischen Ausnahmegesetze gegen die
Katholiken s. in The Catholic Encyclopedia V.