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Toleranz.
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(Neuyork 1909) 456 f. Wenn so alle Staaten der Katholiken in den protestantischen Staaten, wie
Welt, nicht zuletzt gerade die katholischen, schon
längst mit umfassenden Freiheitsgesetzen vorge-
gangen sind, so hat sich vollends seit fünfzig Jahren
die Religionskarte der Erde durch das ausge-
dehnte Auswanderungswesen, den gesteigerten
Weltverkehr, die Liberalität der Freizügigkeits--
und Niederlassungsgesetze so gründlich verändert,
daß heute in allen Weltteilen die verschiedensten
Konfessionen friedlich untereinander sitzen und den
Staat, selbst wo er es nicht wollte, zur weitest
gehenden Toleranz gegen die Religionen förmlich
zwingen würden. Mit Recht macht Fr. Ruffini
(s. unten) darauf aufmerksam, daß heutzutage, wo
Arbeitsgelegenheit und Arbeitsmangel Tausende
von dürftigen Menschen für ihren Broterwerb in
andersgläubige Gegenden treibt, auch volkswirt-
schaftliche Gründe schwerwiegendster Art zugunsten
der staatlichen Toleranz gegenüber fremden Reli-
gionsbekenntnissen sprechen. Allein es gibt auch
Staaten, die verfassungsmäßig sogar zur Pari-
tät verpflichtet sind. Unter Parität (s. d. Art.)
versteht man die rechtliche Gleichstellung verschie-
dener Religionsgesellschaften im selben Staats-
wesen. Der paritätische Staat hat nicht nur die
ungekürzte Freiheit der Religionsübung mit allen
dem Kultus und seinen Dienern zukommenden
Rücksichten und Vorrechten sowie das Recht der
freien Religionsverkündigung in Wort und Schrift
zu gewährleisten und zu schützen, sondern auch die
Eigentumsfähigkeit der in Betracht kommenden
Konfessionen genau so anzuerkennen wie diejenige
anderer rechtsfähiger Korporationen. Daß hiermit
das Recht der freien Verwaltung und selbständiger
Ordnung der eignen religiösen Angelegenheiten
Hand in Hand geht, versteht sich von selbst. Zum
Begriff der Parität gehört aber weiter das Recht,
daß bei den staatlichen Zuwendungen für reli-
giöse Bedürfnisse (z. B. Schulen, öffentliche An-
stalten) die eine Konfession vor der andern nicht
bevorzugt werde, ausgenommen den Fall, wo ein
spezieller Rechtstitel vorliegt, welcher nach den Ge-
setzen der Gerechtigkeit diese Sonderstellung recht-
fertigt. Endlich hat der paritätische Staat dafür
Sorge zu tragen, daß die Mitglieder einer be-
stimmten Religionsgesellschaft in bürgerlicher und
staatsbürgerlicher Beziehung die gleichen Rechte ge-
nießen und namentlich in der gleichen Fähigkeit
zur Bekleidung öffentlicher Amter nicht beschränkt
werden. F. Walter fügt die für Staatsleiter weise
Bemerkung bei (a. a. O. 491): „Die Staats-
regierung als solche muß, ganz abgesehen von dem
persönlichen Bekenntnis des Landesfürsten, gegen.
jede Kirche die Stellung einnehmen, als ob sie zu
ihr gehöre; in der konsequenten und aufrichtigen.
Durchführung dieses Gesichtspunkts liegt das
kungen und die bedingungslose Durchführung der
da jede eine christliche ist, dem Staat seinen christ-
Mittel, jeder Konfession gerecht zu sein, und doch,
lichen Charakter zu bewahren.“
Den längsten und schwersten Kampf gegen
Schweden und England, zu führen, und selbst in
Deutschland haben sie noch heute mancherorts unter
bedrückenden Härten zu leiden. Wenngleich der
Rechtsgrundsatz der Religionsfreiheit seit 1848 in
allen deutschen Staatsverfassungen Eingang ge-
sunden hat, so ist doch die Praxis vielfach hinter
der Theorie zurückgeblieben, wie in Braunschweig,
Mecklenburg und Sachsen. Um mitdenletzten Uber-
resten rückständiger Zustände in deutschen Landen
gründlich aufzuräumen und das Deutsche Reich in
jedem seiner Winkel für alle Reichsbürger gleich
wohnlich und behaglich zu gestalten, hat die deut-
sche Zentrumsfraktion des Reichstags einen To-
leranzantrag, bestehend aus 10 Paragraphen
(§§ 1/4: Individuelle Religionsfreiheit; 8§ 5 bis
10: Religionsfreiheit der Religionsgemeinschaften)
eingebracht und in ihrem ersten Teil am 5. Dez.
1900 durchgesetzt, freilich ohne bisher die Zustim-
mung des Bundesrats zu erlangen. Grundlegend
ist § 1 dieses Antrags: „Jedem Reichsangehörigen
steht innerhalb des Reichsgebiets volle Freiheit
des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu
Religionsgemeinschaften sowie der gemeinsamen
und öffentlichen Religionsübung zu. Den bürger-
lichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch
die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch
geschehen.“ Als Fürst Bülow nach wiederholten,
ergebnislosen Debatten als einzig gangbaren Weg
die Anknüpfung von persönlichen Verhandlungen
des Reichskanzlers mit den betreffenden Bundes-
staaten bezeichnet hatte, beschritt die Zentrums-
fraktion des Reichstags am 7. Dez. 1909 den ge-
wiesenen Weg mit der Einbringung eincs neuen
Toleranzantrags, welcher lautete: „Der Reichstag
wolle beschließen, den Herrn Reichskanzler zu er-
suchen, durch Verhandlungen mit den Bundes-
staaten dahin zu wirken, daß Beschränkungen der
religiösen Freiheit, soweit solche bestehen, auf dem
Weg der Gesetzgebung beseitigt werden.“ Der
Antrag kam am 18. Febr. 1910 zur Verhand-
lung, wurde aber mit einer Mehrheit von zehn
Stimmen (160 gegen 150) abgelehnt. Tief durch-
drungen von der Uberzeugung, daß der moderne
Rechtsstaat solange eine leere Phrase bleibt, als
es nicht gelingen sollte, gleiches Licht und gleiche
Luft für alle zu schaffen und mit dem Prinzip
allgemeiner Religionsfreiheit endlich überall Ernst
zu machen, wird das Zentrum trotz der ungünstigen
Konjunktur nicht eher ruhen, als bis ein Toleranz-
gesetz zustande kommt, das den Forderungen der
Staatsweisheit und Gerechtigkeit in gleich hohem
Maß entspricht. Indem die deutschen Katholiken
sich voll und ganz auf den Boden des Rechtsstaats
stellen, verlangen sie von hier aus mit Recht die
endliche Ausräumung aller intoleranten Beschrän-
Religionsgleichheit in allen Bundesstaaten.
Literatur. Zum Begriff der T. val. Pelisson-
Fontanier, De la tolérance des Religions. Lettres.
staatliche Inloleranz und Imparität hatten die de N. Leiboiz et Réponses de M. Pelisson (Par.