Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

511 
Toleranz. 
512 
(Neuyork 1909) 456 f. Wenn so alle Staaten der Katholiken in den protestantischen Staaten, wie 
Welt, nicht zuletzt gerade die katholischen, schon 
längst mit umfassenden Freiheitsgesetzen vorge- 
gangen sind, so hat sich vollends seit fünfzig Jahren 
die Religionskarte der Erde durch das ausge- 
dehnte Auswanderungswesen, den gesteigerten 
Weltverkehr, die Liberalität der Freizügigkeits-- 
und Niederlassungsgesetze so gründlich verändert, 
daß heute in allen Weltteilen die verschiedensten 
Konfessionen friedlich untereinander sitzen und den 
Staat, selbst wo er es nicht wollte, zur weitest 
gehenden Toleranz gegen die Religionen förmlich 
zwingen würden. Mit Recht macht Fr. Ruffini 
(s. unten) darauf aufmerksam, daß heutzutage, wo 
Arbeitsgelegenheit und Arbeitsmangel Tausende 
von dürftigen Menschen für ihren Broterwerb in 
andersgläubige Gegenden treibt, auch volkswirt- 
schaftliche Gründe schwerwiegendster Art zugunsten 
der staatlichen Toleranz gegenüber fremden Reli- 
gionsbekenntnissen sprechen. Allein es gibt auch 
Staaten, die verfassungsmäßig sogar zur Pari- 
tät verpflichtet sind. Unter Parität (s. d. Art.) 
versteht man die rechtliche Gleichstellung verschie- 
dener Religionsgesellschaften im selben Staats- 
wesen. Der paritätische Staat hat nicht nur die 
ungekürzte Freiheit der Religionsübung mit allen 
dem Kultus und seinen Dienern zukommenden 
Rücksichten und Vorrechten sowie das Recht der 
freien Religionsverkündigung in Wort und Schrift 
zu gewährleisten und zu schützen, sondern auch die 
Eigentumsfähigkeit der in Betracht kommenden 
Konfessionen genau so anzuerkennen wie diejenige 
anderer rechtsfähiger Korporationen. Daß hiermit 
das Recht der freien Verwaltung und selbständiger 
Ordnung der eignen religiösen Angelegenheiten 
Hand in Hand geht, versteht sich von selbst. Zum 
Begriff der Parität gehört aber weiter das Recht, 
daß bei den staatlichen Zuwendungen für reli- 
giöse Bedürfnisse (z. B. Schulen, öffentliche An- 
stalten) die eine Konfession vor der andern nicht 
bevorzugt werde, ausgenommen den Fall, wo ein 
spezieller Rechtstitel vorliegt, welcher nach den Ge- 
setzen der Gerechtigkeit diese Sonderstellung recht- 
fertigt. Endlich hat der paritätische Staat dafür 
Sorge zu tragen, daß die Mitglieder einer be- 
stimmten Religionsgesellschaft in bürgerlicher und 
  
staatsbürgerlicher Beziehung die gleichen Rechte ge- 
nießen und namentlich in der gleichen Fähigkeit 
zur Bekleidung öffentlicher Amter nicht beschränkt 
werden. F. Walter fügt die für Staatsleiter weise 
Bemerkung bei (a. a. O. 491): „Die Staats- 
regierung als solche muß, ganz abgesehen von dem 
persönlichen Bekenntnis des Landesfürsten, gegen. 
jede Kirche die Stellung einnehmen, als ob sie zu 
ihr gehöre; in der konsequenten und aufrichtigen. 
Durchführung dieses Gesichtspunkts liegt das 
kungen und die bedingungslose Durchführung der 
da jede eine christliche ist, dem Staat seinen christ- 
Mittel, jeder Konfession gerecht zu sein, und doch, 
lichen Charakter zu bewahren.“ 
Den längsten und schwersten Kampf gegen 
Schweden und England, zu führen, und selbst in 
Deutschland haben sie noch heute mancherorts unter 
bedrückenden Härten zu leiden. Wenngleich der 
Rechtsgrundsatz der Religionsfreiheit seit 1848 in 
allen deutschen Staatsverfassungen Eingang ge- 
sunden hat, so ist doch die Praxis vielfach hinter 
der Theorie zurückgeblieben, wie in Braunschweig, 
Mecklenburg und Sachsen. Um mitdenletzten Uber- 
resten rückständiger Zustände in deutschen Landen 
gründlich aufzuräumen und das Deutsche Reich in 
jedem seiner Winkel für alle Reichsbürger gleich 
wohnlich und behaglich zu gestalten, hat die deut- 
sche Zentrumsfraktion des Reichstags einen To- 
leranzantrag, bestehend aus 10 Paragraphen 
(§§ 1/4: Individuelle Religionsfreiheit; 8§ 5 bis 
10: Religionsfreiheit der Religionsgemeinschaften) 
eingebracht und in ihrem ersten Teil am 5. Dez. 
1900 durchgesetzt, freilich ohne bisher die Zustim- 
mung des Bundesrats zu erlangen. Grundlegend 
ist § 1 dieses Antrags: „Jedem Reichsangehörigen 
steht innerhalb des Reichsgebiets volle Freiheit 
des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu 
Religionsgemeinschaften sowie der gemeinsamen 
und öffentlichen Religionsübung zu. Den bürger- 
lichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch 
die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch 
geschehen.“ Als Fürst Bülow nach wiederholten, 
ergebnislosen Debatten als einzig gangbaren Weg 
die Anknüpfung von persönlichen Verhandlungen 
des Reichskanzlers mit den betreffenden Bundes- 
staaten bezeichnet hatte, beschritt die Zentrums- 
fraktion des Reichstags am 7. Dez. 1909 den ge- 
wiesenen Weg mit der Einbringung eincs neuen 
Toleranzantrags, welcher lautete: „Der Reichstag 
wolle beschließen, den Herrn Reichskanzler zu er- 
suchen, durch Verhandlungen mit den Bundes- 
staaten dahin zu wirken, daß Beschränkungen der 
religiösen Freiheit, soweit solche bestehen, auf dem 
Weg der Gesetzgebung beseitigt werden.“ Der 
Antrag kam am 18. Febr. 1910 zur Verhand- 
lung, wurde aber mit einer Mehrheit von zehn 
Stimmen (160 gegen 150) abgelehnt. Tief durch- 
drungen von der Uberzeugung, daß der moderne 
Rechtsstaat solange eine leere Phrase bleibt, als 
es nicht gelingen sollte, gleiches Licht und gleiche 
Luft für alle zu schaffen und mit dem Prinzip 
allgemeiner Religionsfreiheit endlich überall Ernst 
zu machen, wird das Zentrum trotz der ungünstigen 
Konjunktur nicht eher ruhen, als bis ein Toleranz- 
gesetz zustande kommt, das den Forderungen der 
Staatsweisheit und Gerechtigkeit in gleich hohem 
Maß entspricht. Indem die deutschen Katholiken 
sich voll und ganz auf den Boden des Rechtsstaats 
stellen, verlangen sie von hier aus mit Recht die 
endliche Ausräumung aller intoleranten Beschrän- 
Religionsgleichheit in allen Bundesstaaten. 
Literatur. Zum Begriff der T. val. Pelisson- 
Fontanier, De la tolérance des Religions. Lettres. 
staatliche Inloleranz und Imparität hatten die de N. Leiboiz et Réponses de M. Pelisson (Par.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.