Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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vom religiösen Bekenntnis. Es besteht für den 
Bürger volle Gewissensfreiheit. Es gibt keine 
Nötigung zur Offenbarung oder Betätigung reli- 
giösen Bekenntnisses, zu religiöser Erziehung der 
Kinder. Ehe= und Begräbniswesen, Beurkundung 
des Personenstands sind verstaatlicht (ogl. Hin- 
schius, Staat und Kirche, in Marquardsens 
Handbuch des öffentlichen Rechts I, TI 1118831. 
221 262 ff; auch separat; Kahl, Lehrsystem des 
Kirchenrechts und der Kirchenpolitik (189.41) 295f; 
ders., Aphorismen usw. a. a. O. 1351 ff; Rothen- 
bücher a. a. O. 438 ff; Böckenhoff, Katholische 
Kirche und moderner Staat (1911] 114 ff). 
V. Beurteilung der Lrennung von Kirche 
und Staat. In der Beurteilung der Trennung 
von Kirche und Staat gehen die Meinungen weit 
auseinander. Es fehlt nicht an Lobrednern der- 
selben, und zwar auf seiten derer sowohl, die es 
nicht gut mit der Religion und Kirche meinen, als 
solcher, die es gut mit ihr meinen. Eingenommen 
sind für die Trennung und streben eine solche mit 
allen Kräften an die Gegner der Kirche. Sie 
hoffen, daß die auf solche Weise der Hilfe des 
Staats beraubte Kirche bald zugrunde gehen werde. 
Für sie auch erklären sich die religiös Indifferenten, 
welche keine Religion für wert halten, vom Staat 
beschützt zu werden. Von seiten der Gutgesinnten 
werden als Gründe für die Trennung angeführt: 
die damit gegebene volle Freiheit für Kirche und 
Staat, die Verkleinerung oder gänzliche Beseiti- 
gung der Reibungsfläche zwischen Kirche und 
Staat, die vollständige Rechtsgleichheit unter den 
Kirchen und Konfessionen, die Ersprießlichkeit des 
Zustands, wie solche verschiedene Staaten, wo diese 
Trennung besteht, z. B. die Vereinigten Staaten von 
Amerika, Belgien, Brasilien, erweisen. Aber trotz- 
dem mangelt es nicht an Stimmen dagegen, und 
auch hier wieder seitens der Gegner und Freunde 
der Religion und Kirche. Man weist darauf hin, 
daß der Staat durch die Trennung alle Herrschaft 
über die Kirche verliere, welche damit die Herrschaft 
über den Staat gewinne; man bemerkt, daß die 
protestantischen Kirchen, die im wesentlichen auf 
den Zusammenhang mit dem Staat gebaut seien, 
durch die Trennung viel schwerer leiden, ja in 
ihrer Existenz gefährdet sein würden. In Wahr- 
heit spricht eine Reihe der gewichtigsten Gründe 
gegen die Trennung von Kirche und Staat. 
Dagegen spricht vor allem Vernunft und Offen- 
barung. Die Kirche ist die von Christus gegrün- 
dete Religionsgesellschaft, um den Menschen zur 
Seligkeit zu führen. Der Staat ist von Gott 
gewollt, um das zeitliche Glück des Menschen zu 
sichern. Kirche und Staat haben also an dem 
Wohl des einen Individuums gleichmäßig und 
vereint zu arbeiten. Aber auch in Hinsicht auf 
den eignen gesicherten Bestand sind Staat und 
Kirche aufeinander angewiesen. Der Staat er- 
hält die Sanktion von der Kirche, indem sie er- 
klärt, daß die Obrigkeit ihre Gewalt von Gott 
habe, daß sich daher die Untertanen ihr um 
  
  
  
  
  
  
  
Trennung von Kirche und Staat. 526 
Gottes willen unterwerfen müssen. Die Kirche 
heiligt den Jungbrunnen der Gesellschaft: die Ehe 
und das Familienleben. Sie unterrichtet und er- 
zieht die Jugend zur Religion. Sie wirkt durch 
den Glauben an Gottes Gerechtigkeit dem Ver- 
brechen entgegen. Sie sichert Handel und Ver- 
kehr, indem sie Vertrag und Eid als heilig hin- 
stellt. Sie übt den größten Einfluß auf die so- 
zialen Verhältnisse, indem sie die Arbeit und die 
Nächstenliebe als sittliche Pflicht einschärft. Ohne 
die Tätigkeit der Kirche würde bald ein bellum 
omnium contra omnes eintreten. Aber auch die 
Kirche braucht den Staat: in der freien Verkün- 
digung der Lehre, in der ruhigen Übung des 
Kultus, in durchgreifender, erfolgreicher Tätigkeit 
in Schulen aller Art, in Aufrechterhaltung der kirch- 
lichen Disziplin, in Bestrafung kirchlicher Ver- 
gehen, in Erwerb und Besitz von Vermögen, in 
ihrer öffentlichen Stellung und Geltung. Die 
wichtigsten Gebiete sind der vom Staat getrennten 
Kirche verschlossen, wie die staatlichen Schulen, 
die Parlamente, die ganze Gesetzgebung. Gerade 
in der staatlichen religionslosen Schule verliert die 
Kirche die Massen millionenweise von Jugend auf. 
Sodann spricht die Geschichte gegen die Tren- 
nung von Kirche und Staat. Die ganze Kultur und 
Zivilisation, wie sie seit dem Eintritt des Christen- 
tums in der Welt sich entwickelt hat, ist die ge- 
meinsame Schöpfung von Kirche und Staat. Unter 
diesen Umständen ist die Trennung von Kirche und 
Staat ein Abreißen aller historischen Kontinuität, 
welches Abreißen immer schädlich ist, ein Bruch 
mit der ganzen Vergangenheit, der eine Un- 
masse von Ruinen schafft. Aus diesem Grund 
kann für die Trennung nicht auf die Vereinigten 
Staaten Amerikas exemplifiziert werden, weil 
dort diese Verbindung zwischen Kirche und Staat 
nie bestand, daher die Trennung diese zerstörenden 
Folgen nicht hat. Aus eben diesem historischen 
Grund ist die Trennung auch ein schnöder Un- 
dank gegen die katholische Kirche. Sie vor allem 
hat sich seit Jahrtausenden um den Staat und 
die Staaten mehr als mütterlich verdient gemacht. 
Bei der Trennung aber wird sie ungelohnt dafür 
entlassen, ebenso wie das nächste beste Bekenntnis 
von heute oder gestern. Und nicht bloß ungelohnt, 
sondern auch mit schwerem Schaden kommt die 
Kirche in diesem Fall weg. In der Revolution 
und Sakularisation haben die Staaten der Kirche 
sehr viel Kirchengut weggenommen. Rechtspflicht 
ist und bleibt es daher, dasselbe wieder zu- 
rückzugeben oder die Kirche anderweitig zu ent- 
schädigen. Diese Rechtslage haben die Staaten 
auch dadurch anerkannt, daß sie entweder durch 
den Reichsdeputationshauptschluß 8 35 oder Kon- 
kordate oder Zirkumskriptionsbullen die öffentlich- 
rechtliche Verpflichtung übernommen haben, der 
Kirche zur Deckung ihrer Bedürfnisse eine Summe 
von entsprechender Höhe zukommen zu lassen. Bei 
der Trennung von Kirche und Staat entfällt aber 
diese staatliche Leistung an die Kirche. Dann ist 
 
	        
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