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geschieht fast stets unter dem Einfluß des Alko-
hols, ebenso die größte Zahl der unsittlichen
Attentate auf Kinder (in Preußen 84%; Hoppe).
Unter den Prostituierten sind zahlreiche Trin-
kerinnen (ogl. Parent-Duchatelets, Untersuchungen).
Auch auf die Häufigkeit der Ehescheidungen soll
der Alkoholismus einwirken.
4. auf die Nachkommenschaft. Hierüber hat
Dr Demme viel Material geliefert: So waren
z. B. von 57 Kindern aus 10 Trinkerfamilien nur
10 normal, von 61 aus 10 sehr mäßigen Fami-
lien 50; Epilepsie und Idiotismus sind das An-
teil zahlreicher Trinkerkinder. Eigenartig sind fer-
ner die Erfahrungen von Professor Bunge-Basel,
wonach starker Alkoholgenuß des Vaters fast immer
die Töchter der Stillfähigkeit beraubt, womit die
Säuglingssterblichkeit so eng zusammenhängt.
III. Fragen wir nun, ob jeder noch so geringe
Genuß bemerkenswerte Schädigungen der gedachten
Arten hervorruft, so ist zu erwidern, daß Genuß
kleiner Mengen von erwachsenen Menschen
ohne namhaften Schaden ertragen wird, wenn er
sich nicht zu schnell widerholt; bestimmte Angaben
über die zulässige Menge können nicht gemacht
werden, da sie für den einzelnen verschieden ist,
doch wird als Höchstmaß für jeden ½ Liter Wein
Trunksuchtsbekämpfung.
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Überall kamen jetzt Mäßigkeitsvereine empor,
getragen durchweg von religiösen Ideen (Ab-
legung des Mäßigkeitsversprechens). In Nord-
deutschland wirkten besonders mit großem Eifer
die hannoverschen Geistlichen Seling in Osnabrück
(kath., Lebensbild von Jostes (1900.) und Böttcher
in Imsen (evang.), ferner von katholischer Seite
Pfarrer Fitzek in Schlesien und der Missionär
Hillebrand mit P. Ketterer in Westfalen. Der
Höhepunkt ward 1846 erreicht (über 1400 Vereine
mit 1 Mill. Mitgliedern). Dann ging es infolge
mangelnder Organisation (keine Zeitschrift, keine
Beiträge, keine Zentrale) schnell bergab, besonders
im Nevolutionsjahr 1848. Auf katholischer Seite
vermochte man mehr zu retten, da die Kirche ihre
Gnadenschätze öffnete (1852 Erzbruderschaft mit
vielen Ablässen in Breslau); so bestehen besonders
im Osten bis heute noch zahlreiche Mäßigkeits-
bruderschaften. Ein letztes Aufflackern zeigte die
Bewegung im Kontinentalen Mäßigkeitskongreß
in Hannover (18683), der aber auf Vorschlag eines
amerikanischen Vertreters schon eine der Abstinenz
zuneigende Resolution annahm.
Die Abstinenz nebst der Trinkerrettung ist das
Hauptmerkmal der jüngeren Bewegung, die seit
den 1880er Jahren erstarkte. Sie hat ihre stärkste
oder 1 Liter Bier genannt. Man kann daher nicht Stütze im internationalen „Unabhängigen Gut-
die Abstinenz als Pflicht für alle bezeichnen, wenn- templerorden“ (IOGT = Independent Order of
gleich sie von segensreichen Folgen für die Gesund= Good Templars). 1851/52 in Amerika gegründet
heit ist und am besten vor der Gefahr der Un= auf humannärer Grundlage, ward er 1868 nach
mäßigkeit schützt. Für Kinder ist die Abstinenz
jedoch unbedingt zu fordern; im übrigen hat sie
in der Hauptsache Bedeutung für den Bruch der
Trinksitten und die Trinkerrettung, überhaupt als
Propagandamittel für wirkliche Mäßigkeit. Dar-
aus erklärt sich, daß die Antialkoholbewegung
heute in erster Linie von Abstinenzorganisationen
geführt wird.
Die ältere Bewegung war fast ausschließlich
Mäßigkeitsbewegung und richtete sich hauptsächlich
gegen den Branntwein. An der Schwelle der-
selben stehen mehrere um 1800 erschienene medi-
zinische Schriften, besonders von Hufeland (Die
Branntweinvergistung; Die Kunst, das mensch-
liche Leben zu verlängern) und Hübbe (Schädlich-
Europa verpflanzt, breitete sich dann rasch in Groß-
britannien und den nordischen Staaten aus, fand
1883 auch in Deutschland (Hadersleben) und der
Schweiz (Genf) Eingang. 1905 zählte er in all
diesen Ländern gegen 330 000 Mitglieder, 1909
in Deutschland 53 500, darunter 12 750 Jugend-
liche, in 2 Großlogen und 1008 Logen. Organe:
„Deutscher Guttempler“, „Jung-Siegfried“. An
der Spitze steht die Internationale Loge, darunter
die Groß- (Landes-) und Distrikts= und Ortslogen.
Als Ziel stellt der Orden hin: Allmähliche Ab-
schaffung des Genusses geistiger Getränke. Der
Orden ist eine Art Geheimbund mit satzungs-
gemäß Hlitischer und religiöser Neutralität, hat
aber ein Ritual mit orthodox-protestantischen An-
keit des Branntweins). 1803 erließ Friedrich sprachen für die Sitzungen, wobei die Bibel auf
Wilhelm III. ein Zirkularschreiben an alle Kon= dem Altar liegt. Deshalb hat Professor Forel
sistorien, das Volk „vom schädlichen Brannt- 1901 einen „Neutralen Guttemplerorden“ ge-
weingenuß abzumahnen“. Die Hauptanregungen gründet, dem sich die schweizerischen, französischen,
kamen aber erst drei Jahrzehnte später von Eng= holländischen, belgischen, die meisten ungarischen
land (P. Mathew in Irland) und Amerika her. und einige deutsche Logen anschlossen. Katholiken
1831 erließ Prinz Johann von Sachsen, nachdem ist der Eintritt in den Guttemplerorden verboten
er der Jahresversammlung der British and For- (in Osterreich auch allgemein staatlich untersagt).
eign Temperance Society beigewohnt, einen Mill dieser Verein Abstinenz für alle (daher
Aufruf zur Bekämpfung des Alkoholismus, der Verbot der Herstellung, der Verabreichung und
zur Gründung eines Vereins in Dresden führte des Verkaufs durch Mitglieder), so andere nur
(1832). Im Jahr 18360 erschien Bairds epoche- für Vollmitglieder, so besonders das „Blaue
machende Geschichte über die Enthaltsamkeits= Kreuz“, gegründet 1877 von Pfarrer Rochat in
bewegung in den Vereinigten Staaten, die in fast Genf auf protestantischer Grundlage; anfangs
alle Sprachen und auf Veranlassung von Friedrich Mäßigkeitsverein, nahm es allmählich immer
Wilhelm III. auch ins Deutsche übersetzt wurde. mehr das Abstinenzprinzip an mit dem beson-