Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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das Scheriatrecht kodifiziert. Zum vollständigen 
Sieg schienen die Reformbestrebungen zu kommen, 
als Midhat Pascha 1876 den Sultan, der immer 
mehr zum Wüstling und Verschwender wurde, 
stürzte, seinen Neffen Murad V. und nach dessen 
Erkrankung seinen Bruder Abdu'l-Hamid II. 
(1876/1909) auf den Thron setzte und am 
23. Febr. 1876 eine konstitutionelle Verfassung 
(im wesentlichen die jetzt geltende) erließ. Das 
erste türkische Parlament wurde am 19. März 
1877 vom Sultan eröffnet, doch erfolgte bald ein 
Umschwung. Abdu'l-Hamid entließ Midhat, löste 
das Parlament am 14. Febr. 1878 auf und 
kehrte, ohne die Verfassung formell aufzuheben, 
zum Absolutismus zurück, den er durch strenge 
Verfolgung der Jungtürken und ihrer Presse, durch 
eine ausgedehnte Geheimpolizei und ein überall 
ltätiges und beunruhigendes Spionagegesetz zu be- 
festigen suchte. 
Die Reformen konnten den weiteren Verfall des 
Staats nicht aufhalten. Die mohammedanischen 
Grundlagen des Staats ließen sich nicht umbauen, 
ohne diesen selbst zu erschüttern. Die christlichen 
Völker waren zur Erkenntnis der Schwäche des 
Reichs und der Sympathien des Auslands ge- 
kommen, und dieses störte die ruhige Entwicklung 
und die Autorität der Negierung durch wohl- 
gemeinte oder schlau berechnete Natschläge. Auch 
sehlte der Pforte die notwendige Anzahl gebildeter 
und toleranter Beamter. Zu allem kam noch die 
Finanznot, die sich unter Abdu'l-Asis rasch stei- 
gerte. Die erste Anleihe wurde unmittelbar vor dem 
Krimkrieg ausgenommen; in den nächsten beiden 
Jahrzehnten folgten zehn Anleihen zum durchschnitt- 
lichen Zinsfuß von 9½ %, und nachdem bereits 
die meisten Staatseinkünfte verpfändet waren, 
mußte am 6. Okt. 1875 der Staatsbankrott ver- 
kündigt werden. Infolgedessen wurden 1881 die 
sechs indirekten Steuern der von den Gläubigern 
eingerichteten internationalen Staatsschulden- 
verwaltung unterstellt. — Damit war auch die im 
Krimkrieg errungene Geltung der Türkei unter 
den Mächten bald wieder dahin. Die Anerken- 
nung ihrer Souveränität über Kreta auf der 
Pariser Konferenz 1869 nach Bewältigung des 
dortigen Aufstands war der einzige Erfolg unter 
Abdu'l. Asis. 1871 mußte die Pforte der Beseiti- 
gung der Neutralität des Schwarzen Meeres durch 
Rußland zustimmen, das die flawischen Provinzen 
aufwühlte. 1875 brach der Ausstand in Monte- 
negro, Bosnien und Serbien aus, 1876 auch in 
Bulgarien, und 1877 erklärten Rußland und 
Rumänien den Krieg. Von den harten Bedin- 
gungen des Friedens von San Stefano, der den 
europäischen Besitz der Türkei zu zerreißen drohie, 
wurde sie zwar durch England gerettet, jedoch mußte 
sie auf dem Berliner Kongreß (13. Juli 1878) 
Serbien, Montenegro und Numänien als unab. 
hängige Staaten anerkennen, den beiden ersteren 
und in der Folge (1880/81) auch Griechenland 
Gebietserweiterungen zugestehen, in die Schaffung 
Türkei. 
  
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eines selbständigen, tributpflichtigen Fürstentums 
Bulgarien und einer autonomen Provinz Ost- 
rumelien sowie in die Besetzung von Bosnien und 
Hercegovina durch Osterreich einwilligen und die 
armenischen Festungen an Rußland abtreten. Eng- 
land ließ sich seine Hilfe mit der Abtretung Cyperns 
bezahlen und besetzte 1882 Agypten; auch die Be- 
setzung von Tunis durch Frankreich 1881 schadete 
dem Ansehen der Türkei in der mohammedanischen 
Welt, wenn es auch nur noch lose mit dem Reich 
zusammenhing. 1885 vereinigte sich Ostrumelien 
mit Bulgarien. Seit 1887 gärte es wieder auf 
Kreta, seit 1890 in Armenien, gegen das die Re- 
gierung die Blut= und Habgier der Kurden mobil 
machte, seit 1895 infolge der bulgarischen Agitation 
in Mazedonien, seit 1898 in Arabien. Der Krieg 
mit Griechenland (1897), das Kreta zu erobern 
suchte, zeigte zwar die Erfolge der Reorganisation 
der türkischen Armee durch von der Goltz (1883 
bis 1895), endigte aber trotz ihres Siegs mit der 
Anerkennung der Autonomie Kretas unter dem 
Protektorat der vier Schutzmächte. Die Zustände 
in Mazedonien führten 1903 zu einer friedens- 
gesährlichen Krisis und zum Eingreifen Osterreichs 
und Rußlands, die der Türkei eine Reformaktion 
in den mazedonischen Wilajets auferlegten. 
Immerhin blieben die Beziehungen zu den Groß- 
mächten in den letzten Jahrzehnten friedlich; 
gegenüber den Ansprüchen der territorial benach- 
barten Mächte stellte sich die Pforte in ein freund- 
licheres Verhältnis zu Deutschland (1898 Besuch 
des Kaisers, 1899 Handelsvertrag, Bagdadbahn- 
konzession, Armeelieferungen usw.). 
Die Mißerfolge der despotischen Negierung und 
die Nachgiebigkeit gegen die Forderungen des 
Auslands förderten die zugleich konstitutionelle 
und nationalistische Bewegung, die das Jung- 
türkentum verkörperte und trotz aller Verfolgung 
von Genf, London, Paris und Kairo aus durch 
Flugschriften und Geheimbünde verbreitete. Der 
jetzige Kammerpräsident Ahmed Riza, des Sul- 
tans Schwager Dschemaleddin, der jüngere Mi- 
dhat, der Albanese Ismail Kemal Bey, der nach- 
malige Minister Halil, meistens Männer von 
westeuropäischer Bildung, waren ihre Führer. Seit 
etwa 1905 griff die Bewegung, jetzt im Komitee 
für Einheit und Fortschritt organisiert, von Sa- 
loniki aus auch im Heer und Beamtentum um 
sich. Den unmittelbaren Anlaß zur Revolution 
gab die Zusammenkunft des Zaren mit dem König 
von England in Reval, welche die Türkei mit der 
Forderung der Autonomie für Mazedonien und 
damit dem Verlust einer weiteren Provinz be- 
drohle. Auf die Forderung der meuternden Ar- 
meekorps von Mazedonien und Rumelien mußte 
Abdu'l-Hamid am 24. Juli 1908 die Verfassung 
von 1876 wiederherstellen, die Gleichstellung aller 
Oltomanen vor dem Gesetz, die üblichen Garan- 
tien für Rechtssicherheit und Freiheit, eine Am- 
nestie und die Abschaffung der Geheimpolizei ver- 
künden; der Versuch, durch eine Gegenrevolution
	        
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