Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

557 Türkei. 
das alte System wiederherzustellen, endete mit 
seiner Absetzung und Gefangennahme, worauf sein 
Bruder Mohammed V. den Thron bestieg 
(27. April 1909). Das erste Parlament wurde 
am 17. Dez. 1908 eröffnet; tatsächlich liegt je- 
doch die Macht immer noch in der Hand der Olig- 
archie des Komitees, das sich anfangs zur Aus- 
übung der Regierung der alten staatsmännischen 
Kräste (Said, Ferid, Kiamil, Hilmi), seit Jan. 
1910 (Kabinett Hakki Pascha) aber immer mehr 
seiner eignen Leute (Mehmed Schewbket Pascha, 
Talaat, Dschavid, Halil Bey) bedient. Ob der 
Parlamentarismus bei den großen nationalen, 
religiösen und kulturellen Gegensätzen überhaupt 
lebensfähig ist und die großen Aufgaben, welche 
die Reform der Verwaltung, Justiz und Finanzen, 
die Hebung des Wirtschaftslebens und der Volks- 
bildung, die Versöhnung der Bevölkerungselemente 
stellt, erfüllen kann, ist noch fraglich. Die Autori- 
tät der Regierung liegt in Albanien und Mazedo- 
nien, die 1910 entwaffnet wurden, in Kurdistan 
und bei den Drusen noch ziemlich danieder, Jemen 
befindet sich seit Jahren im Aufstand. Immer- 
hin hat die Revolution nicht nur das Selbst- 
gefühl, sondern auch die Geltung der Türkei im 
Ausland erhöht. Zunächst war sie freilich von 
einer weiteren Einbuße begleitet, indem am 
5. Okt. 1908 Osterreich die Annexion Bosniens 
und der Hercegovina, Bulgarien die Unabhängig- 
keit und am 7. Okt. Kreta die Vereinigung mit 
Griechenland verkündete. Die Pforte erkannte am 
26. Febr. 1909 die Annexion Bosniens, am 
16. März die Unabhängigkeit Bulgariens gegen 
finanzielle Zugeständnisse an, hält aber um so 
entschiedener an ihrer Souveränität über Kreta 
est 
II. Fläche und Bevölkkerung. Das Staats- 
gebiet des Osmanischen Reichs erstreckt sich über 
drei Erdteile. In Europa umfaßt es einen Teil 
der Balkanhalbinsel und einige Inseln im Agäischen 
Meer, in Asien Kleinasien, Armenien, Kurdistan, 
Syrien, Mesopotamien und Teile von Arabien, 
in Afrika Tripolitanien und Bengasi. Über die 
Größe der einzelnen Teile und ihre Bevölkerung 
gibt nachstehende Tabelle Aufschluß. 
  
  
  
- Fläche Be- auuf 
Bestandteile dkm völkerung 1 dkm 
Europäische Türkei 169 300 6 130 Ooo 36 
Asiatische Türkei 1 766 800 16 898 000 09.5 
Kleinassen 501 400 9 089 000 18 
Armenien u. Kurdistan. 186 500 2 471 000 13 
Syrien u. Mesopotamien 637 800 4288 000 7 
Arabben: 441 100 1 050 O000 2 
Tripolitanien 1 051000 10000000 1 
Unnittekbare Besitzungen 52 2 100 24028 000 8 
Tributcc 995 168 11 255 400 11.4 
Wlus ...... 994 300 11 189 900 11,3 
Sams 468 53 500 II,4 
Thassss 400 12 · 
Unter lrember Ver- 
waltung 18218 347400 30 
Cypern-“ ...... 23700024,7 
Kreta....... 8 618 310 400 36 
Reich 4,000 486 35 830 800 8.95 
  
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In ethnographischer Beziehung bietet die Be- 
völkerung (im folgenden ist nur die eigentliche 
Türkei, d. h. die unmittelbaren Besitzungen be- 
rücksichtigt) ein außerordentlich buntes Bild; 
fast nirgends bildet sie auf größere Ausdehnung 
eine in sich gleichartige Masse. Da der Moham- 
medaner infolge seiner Religionsanschauungen die 
unterworfenen Völker als unrein und untergeord- 
net ansah, so blieben überall die Gegensätze zwischen 
den herrschenden „Gläubigen“ und den dienst- 
baren, nach Willkür ausgebeuteten „Ungläubigen“ 
bestehen, und es hat keine Assimilierung und 
Konsolidierung der unterworfenen Völker statt- 
gefunden. Im Osmanischen Reich (ohne Agypten) 
gibt es an 15 selbständige Nationen, von denen 
einige wieder in streng geschiedene Stämme zer- 
fallen, die man ebenfalls Nationen nennen könnte. 
Zuverlässige Zahlenangaben über die Größe der 
einzelnen Nationalitäten lassen sich jedoch bei dem 
Mangel einer amtlichen Statistik in der Türkei 
nicht geben, und man ist auf Berechnungen und 
Schätzungen angewiesen, die je nach der Natio- 
nalität und Konfession ihres Urhebers oft weit 
auseinandergehen (vgl. hierüber A. Supan, Be- 
völkerung der Erde XIII 1909] 118 ff. 
Das wichtigste und zahlreichste dieser Bölker 
sind die herrschenden Türken oder Osmanen im 
engeren Sinn (nach der Verfassung heißen alle 
Staatsuntertanen, gleichviel welchen Glaubens 
und welcher Rasse, Osmanen), an 8½—9½ Mill. 
Köpfe, die verschiedenartige Elemente einschließen 
und, wenigstens in den höheren Klassen, wegen der 
fortgesetzten Mischung mit christlichen Sklavinnen 
keine reine Rasse mehr sind. Der Hauptteil wohnt 
in Kleinasien, während auf die europäische Türkei 
etwa 1½.—2 Mill. entfallen (in Konstantinopel 
und Umgebung, in Adrianopel und im südlichen 
Thrakien); in Syrien, Arabien und Mesopo- 
tamien sind sie fast nur durch die türkischen 
Beamten und Soldaten vertreten. Zu den Türken 
gehören auch die teils ansässigen teils nomadischen 
Turkmenen (einige Hunderttausend) in Kleinasien 
und im Nordosten des Reichs. Nach der Volkszahl 
kommen nach den Osmanen die Araber, an 4 bis 
4½ Mill., in Arabien, Syrien und Südostmeso- 
potamien; zu ihnen gehören auch die Berber in 
Tripolitanien (an 1 Mill.). Sprachlich arabisiert 
sind die Syrer (ein baupssüchih semitisches Misch- 
volk), an 1⅛½ die in vielen konfessionell 
verschiedenen Stnde von Palästina bis Meso- 
potamien sitzen (darunter die Drusen im Hauran 
und die Maroniten im Libanon). Im gleichen 
Gebiet wohnen die reinen Nachkommen der Ara- 
mäer (Syrer und Chaldäer), an ½ Mill. Seelen. 
Hauptverbreitungsgebiet der Armenier des tür- 
kischen Reichs, an 1½1—2 Mill., die ganz be- 
sonders den Gegenstand des Hasses der Moham- 
medaner bilden, sind Armenien, das nördliche Kur- 
distan und das östliche Kleinasien bis nahe an den 
Golf von Alexandrien; außerdem sind sie zerstreut 
im ganzen Reich als Händler, besonders in der 
 
	        
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