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100 Piaster direkte Steuer bezahlt; Wähler alle ferner Freiheit der Lehre und des Unterrichts unter
Gemeindebewohner, die ottomanische Staats= der Bedingung, daß die gesetzlichen Bestimmungen
bürger, 18 Jahre alt sind und 50 Piaster eingehalten werden, Preßfreiheit, das Recht, Pe-
Steuer entrichten. Der Muchtar muß vom Kai= titionen in Form von Beschwerden dem Parla-
makam, der Mudir vom Wali bestätigt werden. ment zu überreichen, das Recht, zu kommerziellen,
Die Vorsteher der verschiedenen Religionsgemein= gewerblichen und landwirtschaften Zwecken Ver-
schaften sind kraft ihres Amts Mitglieder des Rats eine zu gründen, Zulassung aller Untertanen,
der Dorfältesten. Die in den Kasa-, Sandschak= welche die türkische Sprache, die Staatssprache
und Wilajethauptstädten eingeführte Stadtverwal= ist, beherrschen, zu den öffentlichen Amtern, Ab-
tung wird vom Schehir-Emini (Bürgermeister) schaffung der Vermögenskonfiskationen, Fronen
geleitet; ihm zur Seite stehen ein Sekretär, ein und Erpressungen in Form von Geldstrafen, von
Steuereinnehmer und die auf vier Jahre gewählten ungesetzlichen Steuern, Abgaben u. dgl., Beseiti-
(in Konstantinopel vom Sultan ernannten) Stadt= gung der Folter und aller übrigen Arten von
verordneten; diese müssen Ottomanen, 30 Jahre Tortur. Die Eigenschaft eines „Osmanen“ wird
alt sein. 500 Piaster Steuern bezahlen und dürfen erworben entweder durch Abstammung von os-
nicht mit einer Gefängnisstrafe von über drei manischen Eltern oder von einem osmanischen
Jahren vorbestraft sein; aus ihnen wird der Vater allein oder durch Verleihung: jeder inner-
Bürgermeister auf vier Jahre ernannt. Die Vor= halb des Osmanischen Reichs geborene Ausländer
steher der Nahijes, die Mudirs, werden auf 2 Jahre kann innerhalb drei Jahren nach seiner Groß-
gewählt; seine und des Bezirksrats Funktionen jährigkeit die Aufnahme in den türkischen Staats-
sind ähnlich wie bei den Dorfgemeinden. verband erlangen, ebenso jeder in der Türkei seit
Gewisse Privilegien bezüglich der Verwaltung mindestens fünf Jahren lebende großjährige
genießen seit alters oder durch Einverständnis der Fremde; die Kinder des so Naturalisierten bleiben
Pforte mit den Mächten einige Landesteile, die jedoch Ausländer. Die Staatsangehörigkeit geht
Halbinsel Athos mit ihrer Mönchsrepublik, die verloren durch Verheiratung einer türkischen Unter-
Wilajets Hedschas und Tripolis, die drei Wilajets tanin mit einem Staatsfremden, durch Entlassung
von Mazedonien und der Libanon (über diesen s. aus dem Staatsverband, die nur durch Kabinetts-
Abschn. VIII); in gewissem Sinn auch einige order des Sultans erfolgt, durch Ausstoßung und
Gegenden, in denen die türkische Verwaltung nie damit verbundene Landesverweisung, die im Fall
ganz durchgeführt werden konnte, wie Oberalba= unerlaubter Naturalisation durch einen fremden
nien, ein großer Teil von Kurdistan, Mesopo= Staat oder Annahme fremden Militärdienstes er-
tamien und Arabien, deren freiheilsstolze Be= folgen kann.
wohner faktisch bis heute kaum ein anderes Gesetz Die Ausländer wurden in früheren Zeiten
anerkannten als ihre Uberlieferungen, und die der nach ähnlichen Grundsätzen behandelt wie die
Steuererhebung und Rekrutierung fast stets be-Rajauntertanen, doch hat die heilig gehaltene
waffneten Widerstand entgegenstellen. Sitte der Gastfreundschaft eine bessere Gestaltung
Eine neue Verwaltungseinteilung ist geplant; des Verhältnisses und eine ziemlich loyale Gesetz-
es soll überall da eine Kasa errichtet werden, wo gebung herbeigeführt und die Politik der Mächte
die Bevölkerung 30 000 Seelen erreicht. In jedem hat weitere Zugeständnisse erzwungen. Die recht-
Wilajet soll eine Kommission gebildet werden, die liche Stellung der Ausländer ist durch die sog.
über alles, was der Provinz dienen kann, wie Kapitulationen (s. dies. Art.) festgelegt, deren erste
über öffentliche Arbeiten, Ausdehnung des Han- mit Venedig 1454 abgeschlossen wurde; heute be-
dels, Verbesserung der Wege usw., Untersuchungen stehen Kapitulationen zwischen der Türkei und
anstellen soll. solgenden Staaten: Deutschland, Osterreich-Un-
Rechtsstellung der Bevölkerung. Alle garn, Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechen-
Untertanen des osmanischen Reichs heißen nach land, Großbritannien, Italien, den Niederlanden,
der Verfassung ohne Unterschied der Abstammung Norwegen, Portugal, Rußland, Schweden, Spa-
und des Glaubens Osmanen. Alle Osmanen ge= nien, Persien und den Vereinigten Staaten. Die
nießen persönliche Freiheit (wobei jedoch die Skla- l Angehörigen dieser Staaten genießen, soweit sie
verei noch saktisch besteht), die vor jedem Angriff ihre Staatsangehörigkeit beibehalten haben, Rechte,
geschützt ist; niemand kann unter irgend einem die an Exterritorialität grenzen, sie der Polizei-
Vorwand außer in den gesetzlich bestimmten Fällen und Jurisdiktionsgewalt der Türkei fast ganz ent-
und in gesetzlichen Formen bestraft werden. Alle ziehen und vielfach auch wirtschaftlich günstiger
Untertanen sind (theoretisch) in Rechten und Pflich- stellen als die Einheimischen. Außer dem Recht,
ten gegen das Reich vollständig gleich (die prak- Grund und Boden zu erwerben, der Unverletzlich-
tische Durchführung zugunsten der nichttürkischen keit des Domizils und einer fast völligen Steuer-
Nationalitälen läßt aber zu wünschen übrig), auch freiheit ist namentlich der privilegierte Gerichts-
in Bezug auf den Heeresdienst (was mit dem Ko- # stand der Ausländer hervorzuheben. Die Konsuln
ran und seiner Lehre von der Herrschaft der Mo= der genannten Kapitulationsstaaten sind sämtlich
hammedaner über die Ungläubigen in unlösbarem mit Jurisdiktionsgewalt ausgerüstet und entschei-
Widerspruch steht). Die Verfassung garantiert den Rechtsstreitigkeiten ihrer Staatsangehörigen