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tehr in hohem Maß zugenommen hat; der Hand-
werker, welcher der Großindustrie gegenüber sich
behaupten will, muß mehr oder weniger kauf-
männisch gebildet sein. Der Bauer muß heute
unbedingt lesen, schreiben und rechnen können.
In der Industrie und selbst in der Landwirtschaft
werden immer mehr Arbeiter mit Schulbildung
verlangt. Dabei kommt dann besonders in Be-
tracht, daß für die allermeisten Menschen es heute
in der Jugend nicht im geringsten feststeht, ob sie
im späteren Leben der elementaren Schulkenntnisse
bedürfen werden oder nicht. Unter den heutigen
Verhältnissen ist auch für die Massen der Arbeiter
eine angemessene Schulbildung unentbehrlich, weil
die Organisation derselben notwendig ist, damit
sie an den Vorteilen, welche die Maschine und die
Arbeitsteilung sowie die damit in engster Ver-
bindung stehende Erweiterung des Verkehrs der
ganzen Gesellschaft bringen oder wenigstens bringen
können, gerechten Anteil gewinnen und nicht gar
Schaden dadurch erleiden. Der Arbeiter, dessen
Tätigkeit durch die rechtlichen oder tatsächlichen
Verhältnisse an die Scholle gebunden war, brauchte
für seine wirtschaftliche und soziale Stellung nur
geringe Schulbildung, der freie bedarf ihrer um
so mehr zur Gewinnung oder Erhaltung einer
ihm nach dem heutigen Stand der Kultur gebüh-
renden wirtschaftlichen und sozialen Stellung.
Entspricht die Schulbildung des Volks dessen
wirtschaftlicher Lage, so wird sie an und für sich
keine Unzufriedenheit hervorrufen. Wenn dagegen
die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der
Schulbildung nicht entsprechen, aber denselben ent-
sprechend geändert werden können, dann ist die
Unzufriedenheit, welche durch die Schulbildung
hervorgerufen wird, kein Übel, sondern ein Vor-
teil. Schlechte wirtschaftliche Verhältnisse schädigen
durchgehends auch die Religion und die Sittlich-
keit, und die Unzufriedenheit mit solchen Verhält-
nissen ist eine Pflicht.
Die heutigen Zeitumstände verlangen auch eine
Teilnahme der Masse des Volks an der Gesetz-
gebung und Verwaltung. Dazu bedürfen die
Staatsbürger aber wenigstens der elementaren
Kenntnisse des Lesens und Schreibens; desgleichen
setzt die soziale Gesetzgebung selbst bei den unteren
Volksklassen die Kenntnis voraus. Der einzelne
Mensch könnte allerdings ohne die Kenntnis des
Lesens und Schreibens seinen religiös-sittlichen
Pflichten nachkommen, aber eine volle Entfaltung
der religiösen und sittlichen Anlage der Mensch-
heit, wie unsere Kulturverhältnisse sie ermöglichen
und zu ihrer Erhaltung fordern, ist nicht zu er-
reichen, wenn nicht das ganze Volk wenigstens
lesen und schreiben kann.
Die Erkenntnis der sittlich-religiösen Wahr-
heiten wird durch die Fertigkeit des Lesens und
durch die Ubung der Denkfähigkeit, welche die
Schule bietet, sehr erleichtert. Auch das durch
Lesen vermittelte Wissen in weltlichen Dingen ge-
währt reiche Mittel zum Verständnis jener Wahr-
Unterrichtswesen.
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heiten und gibt Stützpunkte und Beweggründe zu
einem moralischen Leben. Schon das Ehrgefühl
und Selbstbewußtsein, welches die Elementar-
bildung gewährt, ist ein wichtiges Mittel zur Sitt-
lichkeit, wenn es nicht überspannt ist. Die Anfor-
derungen an die Sittlichkeit werden zudem nach
den veränderten Zeitverhältnissen andere. Der
Gelegenheiten zur Unredlichkeit z. B. gibt es heute
viel mehr als früher, deshalb muß die Fähigkeit,
dieselben zu erkennen, mehr als früher geweckt
werden. Man darf also sagen, daß für jeden ein-
zelnen Menschen in unsern heutigen Kulturverhält-
nissen die Kenntnis mindestens der ersten Ele-
mente des Wissens unbedingt notwendig ist.
Noch von einem andern Standpunkt aus ergibt
sich für den Staat das Recht des Lernzwangs.
Der Staat ist eine von Gott gewollte Institution,
welche die Wohlfahrt der Bewohner fördern
und besonders den Schwachen den wirtschaftlichen
Kampf um das Dasein erleichtern soll. Der Staat
kann aber unter den heutigen Verhältnissen diesem
seinem Zweck nicht nachkommen, wenn nicht die
Masse des Volks wenigstens eine elementare Bil-
dung bat. Da aber der Staat die Mittel ge-
brauchen darf und muß, welche zur Erfüllung
seines Zwecks notwendig sind, so folgt daraus
auch, daß er bei den heutigen Verhältnissen den
Lernzwang einführen darf, ja muß. Dieser Grund
ist für den modernen Staat um so maßgebender,
weil er infolge des Lernzwangs sehr intelligente
Bürger erhält, auf denen zum Teil sein Ansehen
und seine Macht unter den Kulturstaaten beruht.
Einen deutlichen Beweis hiervon geben die Be-
mühungen Frankreichs nach dem Krieg mit
Deutschland.
Der Lernzwang legt allen Eltern die Pflicht
auf, ihren Kindern gewisse Kenntnisse und Fertig-
keiten zu verschaffen. Die Art und Weise, wie sie
dies tun wollen, bleibt ihnen überlassen, da sie als
nächste und unmittelbare Erzieher ihrer Kinder
für den nötigen Unterricht zu sorgen haben. Je-
doch kann die Staatsgewalt sich vorbehalten, die
Kinder einer Prüfung zu unterziehen, ob sie die
gesetzlich vorgeschriebenen Kenntnisse sich angeeignet
haben. Für solche Eltern, die nicht imstande sind,
ihre Kinder zu unterweisen oder durch eigne Lehrer
unterrichten zu lassen, ergibt sich daraus ein in-
direkter Schulzwang. Sie müssen die Kinder
in eine Schule schicken, damit sie daselbst die er-
forderlichen Kenntnisse sich aneignen. Für solche
Schulen zu sorgen, ist unter Umständen Pflicht
des Staats.
Das Maß der Kenntnisse, das der Staat durch
den Lernzwang herbeiführen darf und soll, hängt
naturgemäß von den bestehenden Verhältnissen ab.
Mehr Kenntnisse, als im allgemeinen erforderlich
sind, darf der Staat nicht erzwingen. Die Fest-
setzung dieses Maßes an Kenntnissen sollte, da es
von den verschiedensten Verhältnissen bedingt ist,
nicht von einer staatlichen Zentralinstanz allein
vorgenommen werden, sondern die Eltern und die