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gelehrten Berufe verlangt, gewährt aber auch die
Mittel, um mehr höhere Schulen zu errichten und
den gelehrten Berufen lohnende Beschäftigung zu
gewähren. Die Ursache liegt in der steigenden
Produktionskraft infolge der Arbeitsteilung und
der Maschinen. Wenn auch die Lebenshaltung der
Menschen im Verbrauch der wirtschaftlichen Güter
infolge der steigenden Produktionskraft des ein-
zelnen steigen kann und muß, so kann und muß
doch auch die größere Produktionskraft verwandt
werden, um einen wachsenden Prozentsatz der
Menschen aus der Produktion materieller Güter
herauszunehmen und der geistigen Tätigkeit zu-
zuführen. Die Vertreter der gelehrten Berufe und
die Schulen, welche für diese vorbereiten, müssen
sich also schneller vermehren als die Bevölkerung.
Andernfalls tritt entweder große Arbeitslosigkeit
infolge zu vieler materieller Produkte oder ein
Versinken im materiellen Lebensgenuß ein. Die
immer wiederholten Klagen, daß der Zudrang zu
den gelehrten Berufen, zu den höheren Schulen
über die Bevölkerungszunahme hinausgehe, sind
unbegründet, solange nicht der Zudrang zu sehr
über das Wachstum der Bevölkerung und zugleich
über die steigende Produktionskraft hinausgeht.
Dies findet gewöhnlich dann statt, wenn längere
Zeit hindurch der Zudrang zu den gelehrten Be-
rufen und den höheren Schulen nicht groß genug
war. Ein langsam, aber stetig wachsender Zu-
drang zu den gelehrten Berufen, welcher über die
Volksvermehrung hinausgehl, muß angestrebt wer-
den. Jedoch ist in dem letzten Jahrzehnt der Zu-
drang zu den gelehrten Berufen derart gewesen,
daß fast auf allen Gebieten Uberfluß herrscht.
Das gelehrte Berufsstudium findet in der
Regel auf den Universitäten (s. d. Art.) und andern
Hochschulen statt. Diese Schulen haben die Auf-
gabe, die Wissenschaft (und Kunst) weiter zu führen
und die Vertreter der einzelnen gelehrten Berufe
in ihrer Fachwissenschaft auszubilden. Die
Schulen, welche für die Hochschulen vorbereiten, wer-
den ganz allgemein höhere Schulen, in Süd-
deutschland und Osterreich auch Mittelschulen
genannt (in Norddeutschland versteht man unter
Mittelschulen eine zwischen der Volksschule und
den höheren Schulen stehende Schulgattung, der
in Preußen durch Ministerialerlaß vom 3. Febr.
1910 eine einheitlichere Organisation gegeben
wurde). Diese höheren Schulen haben einmal den
Zweck, ihre Schüler fähig zu machen, sich dem ge-
lehrten Berufsstudium mit Erfolg zu widmen;
zugleich ist es aber auch vornehmlich ihre Auf-
gabe, die höheren Kulturgüter, die in jedem Volk
durch selbständiges Erarbeiten oder durch Auf-
nahme von außen her gewonnen sind, an die fol-
gende Generation weiter zu geben. Im allgemei-
nen müssen deshalb die Schulen, welche der Vor-
bereitung für das gelehrte Berufsstudium dienen,
von dem geschichtlichen Boden ausgehen, auf dem
unsere Kultur erwachsen ist. Dieser wird jedoch
mit der Zeit immer größer; zu dem griechischen
Unterrichtswesen.
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und römischen Altertum sowie dem Christentum
sind die französische und englische Literatur und
Kultur und zuletzt namentlich die Naturwissen-
schaften als mächtige Kulturfaktoren hinzugetreten,
deren Wirksamkeit schon in hohem Maß der Ge-
schichte angehört. Infolge des immer erbitterter
werdenden Kampfs zwischen diesen heterogenen
Bildungselementen, besonders zwischen dem alten
humanistischen Bildungsideal, dessen Endziel der
Gelehrte ist, und dem mathematisch-naturwissen-
schaftlichen der modernen Zeit, die gebildete und
weltgewandte Bürger haben will, kam es 1882 in
Preußen und seitdem auch in den meisten andern
Bundesstaaten Deutschlands zu einer Dreiteilung
der höheren Schulen in 1) Gymnasien (un-
vollständige Form: die sechs= oder siebenstufigen
Progymnasien); 2) Realgymnasien (Real-
progymnasien), deren untere drei Klassen den
gleichen Lehrplan haben wie das Gymnasium;
3) Realschulen. Letztere gliedern sich a) in die
neunstufigen Oberrealschulen (ohne Lateinunter-
richt), b) in die sechs= oder siebenstufigen Real-
schulen; c) in die Höheren Bürgerschulen, die in
Preußen sechsstufig, in Bayern und Baden fünf-
oder vierstufig sind. Wegen des Zeugnisses für
den einjährig-freiwilligen Militärdienst nehmen
alle Realschulen in ihren Lehrplan zwei moderne
Fremdsprachen auf.
Mit dieser Neuordnung der Dinge war aber kein
dauernder Friede geschaffen. Vor allem hatte das
humanistische Gymnasium die stürmischsten An-
griffe zu erdulden, nicht immer ohne eigne Schuld
infolge mancher Einseitigkeit und Weltfremdheit.
Vielfach aber wurde und wird neben den berech-
tigten Forderungen der immer fortschreitenden
Naturwissenschaften und technischen Erfindungen
der Kampf gegen das humanistische Bildungsideal
des Gymnasiums entflammt durch den in unserer
Zeit weit verbreiteten platten Utilitarismus, der
nur für solche Bildungswerte Verständnis hat,
die sich unmittelbar in klingende Münze um-
rechnen lassen. Auch die viel genannte Berliner
Dezemberkonferenz des Jahrs 1890 brachte den
Frieden nicht, da sie nur das Gymnasium und
die Oberrealschule als höhere Schulen gelten ließ,
ohne indes die Gleichwertigkeit der humanistischen
und realistischen Vorbildung anzuerkennen. Was
an praktischen Erfolgen dieser Dezemberkonferenz
in den neuen Verordnungen vom 1. April 1892
erzielt wurde, wird man später schwerlich als einen
Fortschritt in der Entwicklung des Unterrichts-
wesens anerkennen: es wurden für das Gymnasium
nämlich die Unterrichtsstunden für Deutsch, Phy-
sik, Zeichnen und Turnen vermehrt und für Latein
vermindert. Auch wurden die Bestimmungen für
die Abgangsprüfungen neu geordnet durch Ein-
fübrung einer (1901 wieder abgeschafften) sog.
„Abschlußprüfung“ nach dem sechsten Jahrgang,
Wegfall des lateinischen Aufsatzes usw. In den
Jahren 1892/1901 drehte sich der Kampf um die
Frage des lateinlosen Unterbaues, um die Gleich-