Belgien. (November 19. —30.) 255
19. November. (Kammer.) Gleichstellung der vlamischen
mit der französischen Sprache.
Die Kammer nimmt mit 92 gegen 4 Stimmen ein Gesetz an, wo-
nach die vlamische Sprache der französischen als Gesetzessprache gleichgestellt
wird. Es heißt darin: „Die Gesetze müssen zu ihrer Vollziehung im „Moni-
teur"“ in französischer und vlamischer Sprache nebeneinander veröffentlicht
werden. Die königlichen Beschlüsse werden sämtlich durch den „Moniteur“
verkündigt und zwar vlamisch und französisch nebeneinander. Sämtliche
ministeriellen Beschlüsse und Rundschreiben, welche im „Moniteur“" ver-
öffentlicht werden, sollen gleichfalls in beiden Sprachen nebeneinander er-
scheinen. Die Regierung soll alle Gesetze und Beschlüsse, welche die Allge-
meinheit des Landes angehen, in einem französischen und vlamischen Texte
nebeneinander zu einem Gesetzbuch sammeln."“
November. Frage der Heeresorganisation. Erklärung der
Regierung.
Der Kriegsminister Brasfine tritt zurück, da die Regierung seinen
Reformentwurf, der die Stellvertretung abschafft, nicht annimmt. Am
24. November wird der Ministerpräsident in der Kammer hierüber inter-
pelliert und erklärt: Er bestreite, jemals eine formelle Verpflichtung zur
Abschaffung der provisorischen Stellvertretung im Heeresdienste eingegangen
zu sein. Er hätte nur die Einbringung eines Reorganisationsentwurfes
des Heeres im Laufe der gegenwärtigen Tagung versprochen. Die Regie-
rung habe die Entwürfe, mit deren Beratung sie die Kammer in Anspruch
zu nehmen beabsichtigte, reiflich studieren wollen, und ihre Vorlage ver-
bessere die gegenwärtige Lage sehr beträchtlich. Sie müsse behutsam vor-
gehen, um die Kammermehrheit nicht zu spalten, hauptsächlich mit Rücksicht
auf diejenigen, welche die Früchte einer solchen Spaltung ernten könnten.
Man muüsse eben verstehen, die Pflichten, die der Patriotismus vorschreibt,
mit denen, welche der Parlamentarismus auferlegt, in Einklang zu bringen.
Es sei eine Opportunitäts= und keine Prinzipienfrage, welche die Regie-
Trung und den General Brassine von einander getrennt habe. Die Regie-
rung wolle weder eine Abschaffung des stehenden Heeres, wie die Sozialisten
sie träumen, noch ein Volk in Waffen, wie es den Radikalen lieb wäre,
sondern sie wolle das stehende Heer und das Feldheer verbessern unter Auf-
rechterhaltung des gegenwärtigen Effektivbestandes. Das Feldheer würde
sich zusammensetzen aus Freiwilligen und Milizsoldaten, welche durch das
Loos bestimmt werden, wobei man der Stellvertretung einen möglichst ge-
ringen Spielraum lasse.
30. November bis 7. Dezember. (Brüssel.) Konflikt in der
Stadtverwaltung.
Die Sozialdemokraten beantragen im Gemeinderat, das Budget um
400 000 Franken zu erhöhen, um sämtlichen bei den städtischen Betrieben
beschäftigten Arbeitern einen Mindestlohn von 4 Franken bei achtstündiger
täglicher Arbeitszeit zu gewähren. Bürgermeister Buls bekämpfte den An-
trag; die Mehrausgabe, führte er u. a. aus, würde nicht bloß 4000000,
sondern 750000 Franken betragen. Hierauf wird ein Vermittlungsantrag,
3 Franken Mindestlohn für 10stündige Arbeitszeit zu gewähren, ange-
nommen. Infolge dieses Beschlusses tritt der Bürgermeister und das ganze
Schöffenkollegium zurück. Am 7. Dezember werden die Zurückgetretenen
wiedergewählt.