Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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werden, wenn ein staatliches oder allgemeines 
Bedürfnis für solche Schulen vorhanden ist. Die 
Schulen, welche ein speziell kirchliches Bedürfnis 
befriedigen, sind von den einzelnen Kirchen bzw. 
von dem Besitzer der eingezogenen Kirchengüter 
zu unterhalten. Der Staat soll, wenn keine recht- 
liche Verpflichtung vorliegt, nur eintreten, wenn 
ein allgemeines Bedürfnis es erfordert. 
Alle Schulen, welche in erster Linie einzelnen 
Berufen, z. B. der Industrie, dem Handel und 
der Landwirtschaft, dienen, sollten auch in erster 
Linie von diesen Berufen unterhalten werden. 
Wenn diese Schulen bisher sich ohne die Ini- 
tiative und größere Beihilfe des Staats nicht 
genug entwickelt haben, so liegt dies vornehmlich 
an dem Mangel einer beruflichen Organisation 
und an der Gewohnheit, alle Hilfe vom Staat 
zu verlangen. 
Eine mehr oder weniger vollständige Über- 
wälzung der Kosten des höheren Schulwesens auf 
den Staat ist auch der gesunden Entwicklung der 
höheren Schulen in betreff ihrer Zahl und ver- 
schiedenen Gattungen nicht günstig, weil sie von 
der Finanzlage des Staats zu sehr abhängig ist. 
Wenn die Gesellschaft wohlhabender wird und 
infolgedessen mehr Schulen verlangt, die Steuern 
aber nicht in gleichem Maß steigen oder andere 
Ausgaben notwendiger erscheinen, so bleibt das 
Schulwesen zum Schaden der Gesellschaft hinter 
den Forderungen der Zeit zurück, wie die Ge- 
schichte des Schulwesens im 19. Jahrh. deutlich 
genug zeigt. Freiwillige Leistungen für das höhere 
Schulwesen, welche nicht so drückend sind wie die 
Steuern und weniger empfunden, ja vielfach mit 
Freuden übernommen werden, fließen um so spär- 
licher, je mehr das ganze Schulwesen äußerlich 
und innerlich verstaatlicht wird. 
Bei den Kosten, welche heute die höheren Schulen 
verlangen, reicht das Schulgeld keineswegs aus 
zur Bestreitung der Kosten. Das heißt, der Staat 
oder die Stadt bezahlt für jeden Schüler jedes 
Jahr eine bestimmte Summe, welche ihm bzw. 
den Eltern geschenkt wird. Das ist nur gerecht- 
fertigt, solang es sich darum handelt, die für den 
Staat und die Stadt notwendige Anzahl der 
Vertreter der höheren Berufe zu gewinnen oder 
arme, aber begabte, für die Gesellschaft voraus- 
sichtlich sehr nützliche und für die soziale Ent- 
wicklung notwendige Mitglieder dieser Berufe 
auszubilden. Unsere Zeit gebraucht ja mehr denn 
je Beamte, Geistliche, Arzte, welche aus den 
niederen Vollsklassen stammen. Bei wohlhaben- 
den Schülern, welche in erster Linie die höhere 
Schule besuchen, weil das als standesgemäß gilt, 
ist ein derartiges Geschenk kaum berechtigt. Wenn 
an slädtischen Anstalten zuweilen die auswärtigen 
Schüler ein höheres Schulgeld zu zahlen haben 
als die einheimischen, so wäre es mindestens ebenso 
berechtigt, wenn an staatlichen Anstalten die aus- 
wärtigen Schüler ein geringeres Schulgeld be- 
zahlten, weil ja die einheimischen Schüler vor den 
Unterrichtswesen. 
  
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auswärtigen einen großen Vorteil voraushaben, 
obwohl die Eltern der auswärtigen Schüler zu 
den Steuern ebenso herangezogen werden als die 
Eltern der einheimischen. Diese Festsetzung des 
Schulgeldes würde nicht nur der Gerechtigkeit 
mehr entsprechen, sondern auch das heutige allzu 
große und in sozialer Beziehung geradezu gefähr- 
liche Ubergewicht der reichen Leute, der Beamten, 
der städtischen Bevölkerung in dem Nachwuchs 
für die gelehrten Berufe wenigstens in etwa ver- 
mindern. 
Der Unterhalt der höheren Lehranstalten liegt 
gegenwärtig in allen deutschen Bundesstaaten dem 
Staat ob. Eine Verpflichtung für Gemeinden 
oder andere Verbände zur Erhaltung höherer 
Lehranstalten besteht nicht. Die Bedingungen, 
unter denen staatliche Zuschüsse an nichtstaatliche 
Anstalten gewährt werden, sind verschieden ge- 
regelt. In Preußen sind dieselben festgelegt durch 
Ministerialerlaß vom 1. April 1898 und be- 
stimmen, daß für diese Anstalten in Bezug auf 
Besoldung der Lehrer usw. die gleichen Grund- 
sätze gelten wie für die staatlichen Anstalten. In 
allen Bundesstaaten sind für begabte Schüler 
Freistellen errichtet, deren Zahl unter Ausschluß 
der Vorschule 10% von der Schülerfrequenz nicht 
überschreiten darf. Gewöhnlich werden die gesetz- 
lich zulässigen Freistellen, namentlich in den mitt- 
leren Klassen, in halbe Freistellen geteilt, um 
möglichst vielen Schülern eine Ermäßigung des 
Schulgelds zu gewähren. 
Während eine Verstaatlichung aller höheren 
Lehranstalten nach der finanziellen Seite hin noch 
nicht durchgeführt ist, ist ihr innerer Betrieb in 
betreff der einzelnen Unterrichtsgegenstände, des 
Lehrziels in diesen, ja selbst in Bezug auf wichtige 
Punkte der Unterrichtsmethode in den meisten 
Kulturstaalen durchaus von Staats wegen geregelt. 
Das ist nicht zu billigen. Einmal wird die Be- 
wegungsfreiheit für die einzelne Schule und den 
einzelnen Lehrer leicht mehr, als gut ist, unter- 
bunden. Zweitens ist der Fortschritt im Unter- 
richtsbetrieb. für welchen staatliche Vorschriften 
und staatliche Aufsicht oft sehr förderlich sind, 
auch wieder gehemmt, weil bei zu geringer Be- 
wegungsfreiheit neue Methoden und neue Ein- 
richtungen an einer einzelnen Schule meist nicht 
erprobt werden können und Neuerungen an allen 
Schulen zugleich naturgemäß nur schwer vor- 
genommen werden können. Werden sie vor- 
genommen, so ist die Gefahr groß, daß sie ver- 
kehrt sind, wenn sie im einzelnen gar nicht erst 
haben erprobt werden können. Im allgemeinen 
kann man wohl sagen, daß die eigentlichen Ziele 
einheitlich aufgestellt werden müssen; alles übrige, 
namentlich auch die Methoden, den einzelnen 
Anstalten, ja vieles jedem Lehrer überlassen 
bleiben möge. 
Bei einer völligen Verstaatlichung aller höheren 
Lehranstalten ist auch zu befürchten, daß die 
geistige Richtung, welche in den Schulen als zu
	        
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