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sandten eine Reihe von Konflikten mit dem Aus-
land hervor, wobei ihn das Hervorkehren der
Monroedoktrin durch die Vereinigten Staaten er-
mutigte. Seit 1898 mußte Deutschland zwei
Kreuzer in den venezolanischen Gewässern halten,
und 1902/08 kam es zu einer bewaffneten Inter-
vention Englands, Deutschlands und Italiens,
zur Blockade der Küste und zur Beschießung von
Puerto Cabello; 1906/07 zu neuen Konflikten
mit Frankreich, England, den Vereinigten Staaten
und besonders den Niederlanden, weil Castros
Gegner seine Herrschaft von Curaga aus be-
drohten. Als Castro Dez. 1908 nach neunjähriger
Mißwirtschaft einer Operation wegen nach Europa
reiste, brach sofort eine Revolution aus, und Castros
Stellvertreter, der bisherige Vizepräsident Gomez,
wurde provisorischer Präsident; Castros Rückkehr
wurde auf Martinique von Frankreich verhindert.
1909 erließ der Kongreß eine neue Verfassung
und 1910 wurde Gomez auf vier Jahre zum
Präsidenten gewählt. Die Beziehungen zum Aus-
land sind seitdem wieder in Ordnung.
II. Fläche und Bevölkerung. Der Flächen-
inhalt der „Vereinigten Staaten von Venezuela“
beträgt seit der Grenzregulierung mit dem briti-
schen Guayana nach amtlicher Angabe 1020 400,
nach einer in Justus Perthes' Geographischer
Anstalt durchgeführten planimetrischen Berechnung
nur 942 300 qkm. Die Bevölkerung belief sich
Anfang 1909 nach den Berechnungen der Stati-
stischen Generaldirektion auf 2 664 240, nach der
Zählung von 1891 auf 2323 .527 Seelen. Die
einheimische Bevölkerung ist bis auf etwa 1%
Kreolen eine Mischbevölkerung aus Weißen, In-
dianern und den als Sklaven eingeführten Negern;
besonders häufig sind Mulatten, weniger Zambos.
Reine Neger (an 5 %%) sitzen am häufigsten an der
Küste und im warmen Land; von der indianischen
Urbevölkerung sind nur geringe Reste im äußersten
Osten und den südlich anschließenden Llanos er-
halten. Die Fremden (1894 an 44 0000) haben
große wirtschaftliche Bedeutung erlangt; die Deut-
schen haben den Außenhandel größtenteils in
Händen, die Engländer haben die Bergwerke ent-
wickelt, beide Nationen Eisenbahnen gebout, die
Nordamerikaner zahlreiche industrielle Anlagen
begründet. Der Volkszuwachs ist, da der Ein-
wanderungsgewinn gering ist (1907:8350. 1908:
4280, 1909: 9284 Personen; Auswanderung
7438. 3979, 7068 Personen), fast ganz auf die
natürliche Volksvermehrung zurückzuführen (Über-
schuß der Geburten über die Sterbesalle 1907:
22 014. 1908:13 915, 1909:19 144 Personen).
Gegenüber 1810 (802 000 Einwohner) hat sich
die Bevölkerung bis heute mehr als verdreifacht.
Die bedeutendsten Städte sind Caracas (73.000
Einw.), Maracaibo (50 000), Valencia (40 000),
Barquisimeto (28 000), Puerto Cabello (14.000)
und La Guayra (12000 Einw.).
III. Staatswesen. Venezuela ist eine Föde-
rativrepublik aus einem Bundesdistrikt (die Haupt-
Venezuela.
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stadt Caracas mit Umgebung), 20 Staaten und
2 Territorien, deren ursprüngliche Verfassung von
1830 die mannigfachsten Umänderungen erfahren
hat. Die zurzeit gültige Verfassung stammt vom
5. Aug. 1909. Danach ist die Trennung in drei
Gewalten, die gesetzgebende ausführende und
richterliche, durchgeführt. Die gesetzgebende Ge-
walt ruht beim Kongreß, der aus einer Ab-
geordnetenkammer und einem Senat besteht. Beide
Kammern versammeln sich jedes Jahr in der Haupt-
stadt am 19. April zu einer 70 Tage dauernden
Session; beide Kammern tagen getrennt und ver-
einigen sich nur in bestimmten Fällen zum Kon-
greß (Vorsitzender des Kongresses ist der Präsident
des Senats, Vizevorsitzender der des Abgeordneten-
hauses). Die Ausübung eines öffentlichen Amts
ist während der Dauer der Session mit der Würde
eines Kongreßmitgliedes unvereinbar. Die Kon-
greßmitglieder erhalten Diäten; sie genießen wäh-
rend der Sessionsdauer sowie 30 Tage vorher
und nachher Immunität und Freiheit vor gericht-
licher Verfolgung, die selbst mit Zustimmung des
Kongresses nicht erfolgen darf; für die in Aus-
übung ihres Mandats getanen Außerungen und
Abstimmungen sind sie unverantwortlich. Die
Kongreßmitglieder dürfen weder für sich noch für
andere Verträge mit der Exekutive schließen oder
Reklamationen anderer vor dieser vertreten. Die
Befugnisse des Kongresses sind folgende: den
Rücktritt des Präsidenten der Republik und der
Staatsräte zur Kenntnis zu nehmen, die jährlich
vom Präsidenten vorzulegende Bolschaft zu prüfen,
die von den Ministern vorzulegenden Rechen-
schaftsberichte zu prüfen, zu billigen oder miß-
billigen, die organischen und Wahlgesetze für den
Bundesdistrikt und die Territorien zu erlassen,
die Territorien als Staaten zuzulassen, sobald sie
die dafür vorgeschriebenen Bedingungen erfüllt
haben, die Gesetzbücher zu sanktionieren, das
Münz-, Maß- und Gewichtssystem zu regeln,
Bundesämter zu schaffen und aufzuheben, alle mit
der Statistik, dem Gesundheitswesen und dem
Zählungswesen zusammenhängenden Fragen zu
regeln, diplomatische und Handelsverträge oder
Übereinkünfte zu schließen, den Staatshaushalt
"estzustellen, Bundesauflagen auszuschreiben, das
Bundesschuldenwesen zu regeln, den Bundes-
präsidenten, die Staatsräte und den Bundes= und
Kassalionsgerichtshof zu wählen, über die Ver-
waltung der Bundesterritorien Entscheidungen zu
treffen, jährlich die Stärke der Streitkräfte zu be-
stimmen, Krieg zu erklären und Frieden zu schließen.
Die Gesetzesinitiative kann von beiden Kammern
gleichmäßig ausgehen, in bestimmten Fällen auch
von dem zuständigen Minister. Ein vom Kongreß
angenommener Gesetzesentwurf muß vom Präsi-
denten der Republik, der keinerlei Veto hat, ver-
öffentlicht werden.
Für das Abgeordnetenhaus wählt jeder Staat,
der Bundesdistrikt und die Territorien in direkter
Wahl gemäß den von den Einzelstaaten selbst zu