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haben das Recht, in den Kammern zu sprechen,
und müssen erscheinen, wenn diese es verlangen.
Zurzeit bestehen sechs Ministerien: für Inneres,
für Außeres, für Krieg und Marine, für Wohl-
fahrt (Fomento), für öffentliche Arbeiten und für
öffentlichen Unterricht.
Der Staatsrat (Regierungsrat) besteht aus
zehn vom Kongreß auf vier Jahre ernannten Mit-
gliedern (für die zehn Stellvertreter auf die gleiche
Weise bestimmt werden); für die Wahl werden
die 20 Staaten in zehn bestimmte Gruppen ein-
geteilt, deren jede ein Mitglied wählt. Die Staats-
räte müssen die gleichen Eigenschaften wie der
Bundespräsident haben. Der Präsident ist in ge-
wissen Angelegenheiten an die Anhörung bzw.
Zustimmung des Regierungsrats gebunden (s.
oben), außerdem hat der Regierungsrat das Recht,
die von den Ministern verlangten Zusatzkredite zu
bewilligen oder zu verweigern, dem Kongreß jähr-
lich ihm geeignet erscheinende Erkundungen oder
Beobachtungen hinsichtlich der Gesetze und Ver-
waltung zu unterbreiten und in allen von der
Regierung ihm sonst unterbreiteten Angelegen-
heiten Rat zu erteilen.
Die Einzelstaaten sind unter sich rechtlich
gleich und in den meisten innern Angelegenheiten
vom Bund unabhängig; ihre Verfassungen müssen
mit den Prinzipien der Bundesverfassung überein-
stimmen. Die zwei Territorien können Staaten
werden, falls sie mindestens 35.000 Einwohner
zählen und vor dem Kongreß den Nachweis er-
bringen, daß sie fähig sind, eine geordnete Ver-
waltung einzurichten und zu unterhalten. Gegen-
über dem Bund haben die Einzelstaaten unter
anderem sich verpflichtet, zur Ausführung der Ver-
fassung und der Bundesgesetze mitzuwirken, der
Regierung des Bunds das nötige Land zur Er-
richtung von Festungen, Arsenalen, Strafanstalten,
Werften und Häfen, die Verwaltung des Bundes-
distrikts und der Territorien, die Vertretung des
ganzen Landes gegenüber dem Ausland, den
Bundesgewalten die Jurisdiktion und Exekutive
hinsichtlich der Küsten= und Flußschiffahrt, der
Häfen und zwischenstaatlichen Wege zu überlassen,
keine Auflagen von den zur Ausfuhr bestimmten
Landeserzeugnissen zu erheben, den zwischenstaat-
lichen Verkehr nicht zu erschweren, zu den Kosten
des Bundes= und Kassationsgerichtshofs beizu-
tragen, dessen Kompetenz in gewissen Sachen an-
zuerkennen und sich seinen Entscheidungen zu
unterwerfen, bei Streitigkeiten von Einzelstaaten
unter sich neutral zu bleiben, dem Bund das Gesetz-
gebungsrecht über den höheren Unterricht zu über-
lassen, das auf den Staat fallende Truppenkontin-
gent zu stellen, die Verwaltung der Odländereien,
Salinen und Bergwerke, die Erträgnisse daraus,
aus den Territorialsteuern und dem Branntwein
dem Bund zu überlassen, der diese Einkünfte auf
die Einzelstaaten gemäß ihrer Volkszahl verteilt,
keine Münzen zu prägen und kein Papiergeld aus-
zugeben. In den übrigen Angelegenheiten sind sie
Venezuela.
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vom Bund ganz unabhängig. Jeder Staat hat
seine eigne Verfassung, seine gesetzgebende Körper-
schaft, die nach den Wahlgesetzen des Staats zu
wählen ist, einen auf drei Jahre gewählten Prä-
sidenten, einen Generalsekretär und einen Regie-
rungsrat. Für die innere Verwaltung sind sie
eingeteilt in Distrikte und Munizipien; jeder Di-
strikt hat einen Munizipalrat, jedes Munizipium
eine Kommunaljunta.
Die höchste richterliche Gewalt ruht beim
Bundes= und Kassationsgerichtshof, dem höchsten
Gericht für die Union wie für die Einzelstaaten;
er besteht aus sieben, alle vier Jahre vom Kongreß
in geheimer Abstimmung gewählten (und wieder
wählbaren) Mitgliedern, die Venezolaner von Ge-
burt, 30 Jahre alt und Advokaten der Republik
sein müssen. Der Bundes= und Kassationsgerichts-
hof ist höchste Kassations= und Revisionsinstanz
und befindet unter anderem über die gegen den
Präsidenten der Republik, gegen die Regierungs-
räte, die Minister, den Generalprokurator, die
Gouverneure des Bundesdistrikts und der Terri-
torien und seine eignen Mitglieder erhobenen An-
klagen, in Verwaltungsstreitigkeiten zwischen meh-
reren Einzelstaaten oder zwischen diesen und dem
Bund, in Prisensachen u. dgl.; er hat auch die
Ungültigkeit der Gesetze des Bundes und der
Einzelstaaten, die mit der Bundesverfassung in
Widerspruch stehen, über die Ungültigkeit aller
Akte der gesetzgebenden Körperschaften oder der
Exekutive, welche die garantierten Rechte der
Einzelstaaten verletzen, über Streitigkeiten, die sich
aus den von den Bundesgewalten abgeschlossenen
Verträgen ergeben, zu entscheiden. Die Staats-
anwaltschaft ist vertreten durch einen General-
prokurator der Nation, der Venezolaner von Ge-
burt, 30 Jahre alt und Advokat der Republik sein
muß und auf zwei Jahre von der Abgeordneten-
kammer gewählt wird und nach Ablauf der Amts-
dauer wieder wählbar ist. Im übrigen wird die
Rechtspflege durch die Gerichte der Einzelstaaten
besorgt; jeder Staat hat einen obersten Gerichts-
hof (drei Mitglieder), ein Obergericht, Gerichte
erster Instanz, Distrikts= und Munizipalgerichte.
Staatskirche von Venezuela ist die römisch-
katholische Kirche; seit 1854 herrscht volle Reli-
gionsfreiheit, die jetzt auch in der Verfassung ga-
rantiert ist. Der Staat hat über die Kirche das
Patronatsrecht gemäß dem Gesetz vom 28. Juli
1824, das durch die neue Verfassung ebenfalls als
gültig anerkannt ist. Der Staat trägt zum Unter-
halt der Kirchengebäude und des Klerus bei, er
kontrolliert die kirchlichen Ernennungen und übt
das Recht des Plazet bei allen Dekreten des Hei-
ligen Stuhls aus. Der Zutritt auswärtiger Kultus-
diener kann vom Präsidenten untersagt werden;
tatsächlich herrscht auch vielfach großer Priester-
mangel. Die Republik bildet die Kirchenprovinz
Caracas mit den fünf Suffraganbistümern Mé-
rida. Guayana, Calabozo, Barquisimeto, Maro-
caibo; 1909 zählte man 407 Pfarreien, 547