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Vergehen“ bei. Nicht minder sand sich in ent-
sprechenden Gesetzen anderer deutschen Staaten
damaliger Zeit, z. B. Osterreichs, diese Ausdrucks-
weise. Noch in dem § 3 des Wahlgesetzes für den
norddeutschen Reichstag vom 31. Mai 1869 findet
sich eine Bestimmung betr. „politische Verbrechen
und Vergehen“, indem festgesetzt wird, daß die
Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte wegen
derartiger strafbarer Handlungen die Berechtigung
zum Wählen nicht länger hindern solle, als bis
die deswegen erkannte Strafe vollstreckt oder durch
Begnadigung erlassen sei. Und endlich ist in dem
norddeutschen Bundesgesetz vom 21. Juni 1869
über die Gewährung der Rechtshilfe im § 25 die
Vorschrift aufgenommen, daß bis zum Erlaß eines
gemeinsamen Strafgesetzbuchs eine Auslieferung
(uuch) dann nicht stattfinde, wenn die Handlung
ein „politisches Verbrechen oder Vergehen“
ist. In dem Strafgesetzbuch für den Norddeutschen
Bund bzw. das Deutsche Reich selbst aber, auf
welches hingewiesen ist, findet sich dann der Aus-
druck nicht. Von da ab stößt man überhaupt in
keinem Gesetz im engeren Sinn mehr auf jenen
Ausdruck, so daß die einzige zurzeit in Geltung
befindliche gesetzliche Vorschrift, die ihn enthällt,
jener § 3 des Wahlgesetzes für den deutschen
Reichstag ist. Daneben kehrt der Ausdruck noch
in unsern Auslieferungsverträgen, und zwar fast
in allen, wieder, in den verschiedensten Wendungen
und Nuancierungen, als z. B. „politische Ver-
brechen und Vergehen“, „strafbare Handlungen,
die einen politischen Charakter an sich tragen“,
oder „die politischer Natur sind“, oder „die mit
politischen Verbrechen in Verbindung stehen“,
oder „durch ihren Zusammenhang mit politischen
Delikten eine politische Natur annehmen“. Ihret-
wegen soll eine Auslieferung nicht stattfinden.
Auch findet sich der Ausdruck in Amnestieerlassen.
Von den vorgedachten Gesetzen, Verordnungen
Usw. geben mehrere überhaupt keinen Ausschluß
darüber, was sie unter „politischen Verbrechen oder
Vergehen“ bzw. den sonst gebräuchlichen Aus-
drücken für ihre speziellen Zwecke verstanden wissen
wollen, geschweige denn, daß sie Anhaltspunkte für
eine allgemeine Begriffsbestimmung liefern. Aber
auch die übrigen, die eine Erklärung enthalten, sind
für den letzteren Zweck nicht verwertbar. So sagt
zwar der § 2 der erwähnten Verordnung vom
15. April 1848, daß als politische Vergehen im
Sinn des § 2 der Verordnung vom 6. April 1848
zu betrachten seien die im Rheinischen Strafgesetz-
buch in Buch 3, Tit. 1, Kap. 1. 2, Kap. 3,
Abschn. 3, § 2 und Abschn. 7 vorgesehenen. Aber
damit ist nur fixiert, welche politischen Verbrechen
bzw. Vergehen als solche der Zuständigkeit der
Schwurgerichte unterstellt sein sollten. Keineswegs
sollten sie erschöpfend bezeichnet werden. Für eine
allgemeine Begriffsbestimmung ist damit also nichts
gewonnen. Ebenso verhält es sich mit der Bestim-
mung des Art. XIX des Einf. Ges. zum preußi-
schen Strafgesetzbuch von 1851. In den diesem
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl.
Verbrechen,
politische. 706
Artikel voraufgehenden Vorschriften dieses Gesetzes
ist bestimmt, daß die Verbrechen vor die Schwur-
gerichte gehören sollten. Dann besagt der Art. XIX,
daß ingleichen als politische Vergehen die in den
88 78, 84, 85, 86, 98, 99 des Strafgesetzbuchs
erwähnten strafbaren Handlungen vor die Schwur-
gerichte gehören sollten. Hier zeigt es sich noch
deutlicher, daß von einer erschöpfenden Aufzählung
der politischen Delikte keine Rede ist. Von den
politischen Verbrechen ist nämlich überhaupt keine
Rede; sie bedurften keiner besondern Erwähnung,
da sie in der allgemeinen Zuständigkeitsbestimmung
inbegriffen waren. Die Vorschrift hatte vielmehr
die Bedeutung, eine Ausnahme aufzustellen, in-
soweit nämlich, als die bezeichneten strafbaren
Handlungen, obgleich sie keine Verbrechen, sondern
nur Vergehen seien, doch wegen ihres politischen
Charakters zur Zuständigkeit der Schwurgerichte
gehören sollten.
Daß das deutsche Strafgesetzbuch keinen Auf-
schluß über den Begriff gibt, weil ihm der Aus-
druck völlig fremd ist, ist bereits erwähnt. Die
Motive zu seinem Entwurf jedoch sprechen von den
politischen Verbrechen, aber in einem Sinn, der
zur Klärung nur wenig beiträgt. Sie gehen da-
von aus, daß das (damals) neu zu schaffende ge-
meinsame Strafrecht von dem Grundsatz getragen
sein müsse, das ganze Bundesgebiet sei als In-
land und jeder Bundesangehörige als Inländer
aufzufassen. Aus dieser staatsrechtlichen Prämisse
heraus müsse das im Entwurf enthaltene ganze
„politische“ Bundesstrafrecht (wenn eine solche
Begriffsbezeichnung gestattet sei) gebildet werden.
„Am ausgeprägtesten muß natürlich“, so heißt es
weiter, „dieser Grundgedanke auf denjenigen Ge-
bieten des Strafrechts zum Ausdruck gelangen, in
welchen die eigentlich politischen Verbrechen
behandelt werden, und er wird daher die Abschnitte,
welche die politischen Verbrechen im eminenten
Sinn — den Hochverrat, den Landesverrat, feind-
liche Handlungen gegen befreundete Staaten, die
gegen die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte
und gegen die Staatsgewalt als solche gerichteten
strafbaren Handlungen — zum Gegenstand haben,
in allen ihren Einzelbeziehungen durchdringen und
beherrschen müssen.“ Daraus folge dann zunächst
für die Einzelbestimmungen, daß die aufzustellen-
den Begriffe des Hochverrats und des Landesver-
rats andere sein müssen als für ein Sonderstraf-
gesetz eines Einzelstaats. Hier sind also die poli-
tischen Delikte „im eminenten Sinn“ deutlich
bezeichnet, was den Schluß rechtfertigt, daß da-
neben auch noch andere Delikte bestehen, die eben-
falls politischer Natur, wenn auch nicht im emi-
nenten Sinn, seien, wobei dahingestellt bleiben
mag, ob mit dem letzteren Begriff der der „eigent-
lichen“ politischen Verbrechen sich decken soll. Es
ergeben sich aber auch noch weitere Zweifel. Die
vorgedachten Abschnitte sind nämlich die sechs
ersten Abschnitte des zweiten Teils des Strafgesetz-
buchs. Bei der Beratung derselben im Plenum
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