Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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die möglichenfalls den Charakter von politischen 
haben, ist nur noch der Hochverrat durch Mord 
oder Versuch des Mords, welche an dem Kaiser, 
an dem eignen Landesherrn oder während des 
Aufenthalts in einem Bundesstaat an dem Landes- 
herrn dieses Staats verübt worden sind, mit dem 
Tod bedroht. Gibt sich hierin schon eine be- 
merkenswerte veränderte Würdigung der politischen 
Delikte gegen früher zu erkennen, so noch mehr in 
dem folgenden Umstand. Bei Beratung unseres 
Strafgesetzbuchs im norddeutschen Reichstag, spe- 
ziell der Abschnitte über Hochverrat und Landes- 
verrat und der übrigen, nach der oben mitgeteilten 
Bemerkung der Motive, zu den politischen Ver- 
brechen im eminenten Sinn zu rechnenden straf- 
baren Handlungen, wurde überwiegend der Mei- 
nung Ausdruck gegeben, daß für politische Ver- 
brechen, so sehr wegen ihrer großen Gefahr für die 
gesellschaftliche Ruhe eine scharfe Repression auch 
am Platze sei, die für alle Verbrechen nach dem 
Entwurf angedrohte entehrende Zuchthausstrafe 
doch nicht zur Anwendung gebracht werden dürfe, 
da ihre Begehung in der Regel keiner ehrlosen 
Gesinnung entspringe und es deshalb nicht nötig 
sei, der schweren Strafe noch den Schimpf der 
Ehrlosigkeit hinzuzufügen. Auf Grund solcher Aus- 
führungen kam dann zunächst eine Spezialbestim- 
mung für Hoch= und Landesverrat zur Annahme, 
dahingehend, daß hier nur dann auf Zuchthaus- 
strafe erkannt werden dürfe, wenn festgestellt werde, 
daß die Handlung aus einer ehrlosen Gesinnung 
entsprungen sei. Sie ist dann später zu der Be- 
stimmung des § 20 des Strafgesetzbuchs gleichen 
Inhalts verallgemeinert worden. Demgegenüber 
mag nicht unerwähnt bleiben, daß auch Stimmen 
laut geworden sind, welche dem politischen Delikt, 
sofern es überhaupt als eine besondere Art der 
strafbaren Handlungen anerkannt werden könnte, 
keinenfalls eine Ausnahmestellung in Ansehung 
der Bestrafung einräumen wollen. 
Aus dem unter 1 Gesagten ergibt sich weiter, 
daß die Feststellung des Begriffs der politischen 
Verbrechen fast allein für das Auslieferungswesen 
von praktischer Bedeutung ist, indem die Aus- 
lieserungsbehörde darüber befinden muß, ob ein 
Delikt als politisches oder als ein mit einem solchen 
in Verbindung stehendes zu erachten ist oder nicht, 
und ob demgemäß und zufolge vertragsmäßiger 
Verpflichtung eine etwa beantragte Auslieferung 
gewährt oder versagt werden soll. Das Nähere 
darüber gehört dem Artikel Auslieferung an. Hier 
ist in dieser Beziehung nur noch folgendes zu be- 
merken. Noch mehr als in der vorher erwähnten 
Milderung der Strafandrohung für die politischen 
Verbrechen gibt sich eine veränderte Würdigung 
derselben in der veränderten Ausführungspraxis zu 
erkennen. Es mag hier dahingestellt bleiben, in- 
wieweit man früher von einem wirklichen Völker- 
recht sprechen konnte, jedenfalls war es bis in die 
neueste Zeit hinein völlerrechtliche Praxis, poli- 
tische Verbrecher ohne Ausnahme auszuliefern. 
  
Verbrechen, 
  
politische. 
Das moderne Völkerrecht dagegen erkennt eine 
Verpflichtung zur Auslieferung eines Verbrechers 
überhaupt nicht an, es sei denn auf Grund beson- 
derer vertragsmäßiger Festsetzung. Nun ist bereits 
oben die sog. belgische Attentatsklausel mitgeteilt. 
Danach scheidet für den Verkehr zwischen solchen 
Ländern, welche untereinander Auslieferungsver- 
träge unter Aufnahme dieser Klausel abgeschlossen 
haben, der Hochverrat durch Mord oder Versuch 
des Mords am Staatsoberhaupt aus den politi- 
schen Verbrechen aus; er gilt als gemeines Ver- 
brechen, wegen dessen die Auslieferung stets statt- 
findet. Im übrigen aber findet im geraden Gegensatz 
zu früher regelmäßig nach den unter 1 erwähnten 
Vertragsbestimmungen eine Auslieferung wegen 
politischer und anderer mit solchen in Verbindung 
stehender Verbrechen und Vergehen nicht statt. 
Also die meisten Kulturstaaten sträuben sich, selbst 
vertragsmäßig die Verpflichtung zur Auslieferung 
zu übernehmen, und es gibt sogar Staaten, wie 
oben bemerkt, welche die belgische Attentatsklausel 
aufzunehmen und wegen Hochverrats in den darin 
bezeichneten Fällen auszuliefern ablehnen. — Über 
die Stellung der politischen Verbrechen in der 
Rechtspflege im Zusammenhang mit der Ausliefe- 
rung sodann noch folgendes. Die Entscheidung 
über Gewährung oder Versagung der Auslieferung 
zu treffen und diese zur Ausführung zu bringen, 
ist ein Akt der Rechtshilfe, ein Verwaltungsakt, 
wie die herrschende Meinung, entsprechend der sog. 
Orforder These, annimmt und gehört somit dem 
Gebiet der staatlichen Verwaltung und nicht dem 
der eigentlichen Rechtspflege an. Indessen können 
auch die mit der Strafrechtspflege betrauten Be- 
hörden in die Lage kommen, selbständig entscheiden 
zu müssen, ob ein politisches Delikt im Sinn der 
Auslieferungsverträge vorliegt oder nicht. Das 
ist einmal der Fall, wenn nach erfolgter Ausliefe- 
rung seitens des Beschuldigten der Einwand der 
Unzulässigkeit des Strafverfahrens gemacht wird, 
weil entgegen der Annahme des ausliefernden 
Staats ein politisches Verbrechen in Frage stehe. 
Sodann auch unter folgenden Umständen. Die 
meisten Auslieferungsverträge enthalten die Be- 
stimmung, daß eine Person, welche wegen eines 
gemeinen Verbrechens oder Vergehens ausgeliefert 
worden ist, in demjenigen Staat, an welchen die 
Auslieferung gewährt ist, in keinem Fall wegen 
eines von ihr vor der Auslieferung verübten poli- 
tischen Verbrechens oder Vergehens, noch wegen 
einer Handlung, die mit einem solchen politischen 
Verbrechen oder Vergehen im Zusammenhang steht, 
zur Untersuchung gezogen und bestraft werden dürfe. 
Für den § 3 Ziff. 4 des Wahlgesetzes für den 
deutschen Reichstag endlich ist die Feststellung des 
Begriffs der politischen Verbrechen von geringerer 
Bedeulung. Es ist kein Fall bekannt geworden, in 
dem diese Bestimmung praktische Anwendung ge- 
sunden hätte. Die mitgeteilte Bestimmung des §20 
des Strafgesetzbuchs hat indirekt die etwaigen 
Schwierigkeiten in der Hauptsache beseitigt. 
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