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Der Bürgerkrieg (1861/65)ndete mit dem Sieg
der an Bevölkerung und Kultur weit überlegenen
Nordstaaten. Während des Kriegs erfolgte die
Aufhebung der Sklaverei ohne Entschädigung,
1867 die bürgerliche Gleichstellung der Neger,
letzteres eine bei ihrer niedrigen Kultur verfrühte
und für die Südstaaten sehr verderbliche Maß-
regel, da nun die Neger zur herrschenden Klasse
oder vielmehr zu Werkzeugen gewissenloser Poli-
tiker aus den Nordstaaten wurden. Seit den
1870er Jahren, als die Weißen sich von der
Herrschaft der Neger und „Carpetbaggers“ befreit
hatten, wurde das Wahlrecht der Neger in den
Einzelstaaten durch mancherlei Bedingungen ein-
geschränkt und wird vielfach noch durch Gewalt,
Einschüchterung und Betrug illusorisch gemacht.
In den Nordstaaten folgte auf den Krieg ein
rapider Aufschwung, freilich begleitet von den
üblen Erscheinungen der Gründerzeit (Krach 1873).
Der Westen wurde durch Bahnen erschlossen und
dadurch zum Ausfuhrland für Getreide, das
Felsengebirge wurde besiedelt, 1869 die Bahn nach
San Francisco eröffnet. Die Noheisen= und
Kohlenproduktion, die Ausbeute an Edelmetallen,
Petroleum, Kupfer, die Baumwollernte und indu-
strie wuchsen in erstaunlichem Maß. Bereits zeigten
sich auch die ersten Spuren monopolartiger Bil-
dungen. Die demokratische Partei rekonstruierte sich
nach dem Bürgerkrieg und bekam auch im Norden
und Westen wieder Anhang. Am Ruder blieben
jedoch die Republikaner. Die Präsidentschaft des
einzigen Demokraten (Cleveland 1885/89 und
1893/97) änderten nichts am Regierungssystem.
Damit wurden die Schutzzölle (für deren Bei-
behaltung auch die kostspieligen, der Herrschaft der
Republikaner dienenden Militärpensionen sprachen)
zur Grundsäule der amerikanischen Handelspolitik.
Der Mac Kinley-Tarif von 1890 wurde 1897
durch den Dingley-, dieser 1909 in manchen
Punkten durch den Payne-Aldrich-Tarif erhöht.
So wurden die großkapitalistischen Interessen zu
Stützen der republikanischen Partei, während die
demokratische in den 1890er Jahren sich durch den
Kampf für die Silberwährung schadete. Neuer-
dings ist ein Umschwung eingetreten, die republi-
kanische Partei ist seit Roosevelt selbst in den
Kampf gegen die großen Interessen eingetreten
und stützt sich jetzt auf die imperialistische Idee.
Die Wahlen von 1910 waren weniger Erfolg
der Demokraten als eine Reaktion, besonders
gegen den Zolltarif, innerhalb der republikanischen
Partei. Keine direkte politische Bedeutung haben
die kleineren radikalen Gruppen: die Prohibitio-
nisten (Temperenzler), die Farmer= und die Ar-
beiterpartei. Der große Einfluß der Parteiorgani-
sation hat in der staatlichen und Gemeindeverwal-
tung viele Schäden im Gefolge; immerhin ist durch
Ausschluß vieler Amter (durch Verordnung Roose-
velts vom 1. Dez. 1908 allein 15 000) vom
politischen Beamtenwechsel und durch Forderung
von Examina im Civil Service manches besser
Vereinigte Staaten. 722
geworden. In den Einzelstaaten ist gegenwärtig
ein rascher Ausbau der demokratischen Einrich-
tungen (allgemeines gleiches Wahlrecht, Referen-
dum) zu beobachten.
Die wichtigsten Fragen der Gegenwart sind die
Einwanderung, der Kampf gegen die Schäden der
fortschreitenden Industrialisierung und die aus-
wärtige Politik.
Das Anwachsen der europäischen Einwande-
rung seit den 1840er Jahren führte zur Bildung
einer nativistischen Partei (der Know-Nothings),
doch blieb sie ohne Einfluß auf die Gesetzgebung.
In Kalifornien entwickelte sich seit den 1860er
Jahren ein Gegensatz zwischen den weißen Arbei-
tern und den billiger arbeitenden Chinesen. Seit
den 1880er Jahren verschlechterte sich die Qualität
der Einwanderer; an die Stelle der leichter assimi-
lierbaren Germanen und Iren traten in steigendem
Maß Osteuropäer (Russen, Tschechen, Polen, Un-
garn, Juden) und Italiener. 1882 nahm der
Bund die Einwanderungsgesetzgebung in die Hand,
legte jedem Einwanderer eine Abgabe auf und
untersagte den chinesischen Kulis und den physisch
oder moralisch Minderwertigen die Einwanderung,
1885 auch den Kontraktarbeitern. 1891 wurden
die Gesetze zusammengefaßt und verschärft und ein
Einwanderungsamt errichtet; weitere Verschär-
fungen erfolgten 1893, 1903 und 1907. Das
Gesetz gegen die Kulis wurde 1902 auf unbestimmte
Zeit verlängert und wird auch auf andere Chinesen
angewendet, so daß man sich der Chinesen er-
wehren kann; diese erwiderten 1905 mit dem
Boykott amerikanischer Waren in China. Seit
1900 wuchs dagegen die Zahl der Japaner im
Westen, und da sie sich nicht wie die Chinesen
unter sich hielten, schloß sie der Staat Kalifornien
1906 von den Schulen der Weißen aus, was der
1894 zugesicherten Gleichberechtigung widersprach.
Die Angelegenheit wurde friedlich beigelegt, hat
aber das Verhältnis zu Japan sehr verschlechtert.
Das Einwanderungsproblem ist um so ernster,
als man ohnehin schwer genug an der wachsenden
Negerbevölkerung trägt.
Dank den Schutzzöllen und der (1893 und 1907
allerdings durch Finanzkrisen unterbrochenen) gün-
stigen wirtschaftlichen Lage dauert der Aufschwung
der Industrie und des Handels an. Seit den
1880er Jahren begann der Zusammenschluß der
industriellen Unternehmungen und der mit ihnen
vielfach verknüpsten Eisenbahngesellschaften und
Großbanken zu Trusts (zuerst die Standard Oil
Company 1882), die den Markt monopolartig
zu beherrschen und die freie Konkurrenz kleinerer
Unternehmer mit den rücksichtslosesten Mitteln
auszuschalten suchen; die größten dieser Schöp-
fungen sind der Stahl-, Ol-, Kupfer-, Tabak-,
Zucker= und Ozeantrust. Dabei haben diese Or-
ganisationen auch einen übermäßigen politischen
Einfluß. Die Erregung der öffentlichen Meinung
führte zu zwei Gesetzen, der Interstate Com-
merce Act vom 4. Febr. 1887, welche geheime