Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit 
und Ordnung gefährdenden Mißbrauchs des 
Versammlungs- und Vereinigungsrechts“ vom 
11. März 1850 wesentlich beschränkt, so daß im 
Hinblick auf die Verordnung und die darin aus- 
gesprochenen weitgehenden Befugnisse der Polizei- 
organe der Satz ausgesprochen werden konnte: 
es sei schwer zu sagen, was die Polizei in Preußen 
auf Grund dieser Verordnung nicht könne. Bis 
zum Inkrafttreten jener Verordnung, die aller- 
dings grundsätzlich Versammlungen zur Erörte- 
rung öffentlicher Angelegenheiten gestattete, und 
Vereine, die eine Einwirkung auf öffentliche An- 
gelegenheiten bezweckten, zuließ, waren politische 
Vereine in Preußen durchaus verpönt; sie standen 
unter der scharfen Strafbestimmung des Edikts 
vom 20. Okt. 1798 und den Vorschriften des all- 
gemeinen Landrechts (TI II, Tit. 20, Abschn. VI). 
welche durch Kabinettsorders vom 16. Jan. 1816 
und 30. Dez. 1832 für den ganzen Umfang der 
preußischen Monarchie verbindlich erklärt worden 
waren. Den Bestimmungen der preußischen Ver- 
ordnung entsprachen im wesentlichen die bezüg- 
lichen Gesetze der meisten übrigen deutschen Bundes- 
staaten. 
In die Landesrechte griff nun die Reichsgesetz- 
gebung ein: Art. 4, Ziff. 16 der Verfassung des 
Deutschen Reichs unterwirft die Bestimmungen 
über die öffentlich rechtlichen Verhältnisse der Ver- 
eine der Gesetzgebung des Reichs und seiner Be- 
aufsichtigung, ohne daß aber, abgesehen von ein- 
zelnen Bestimmungen im Reichsstrafgesetzbuch, 
Militärgesetz und Wahlgesetz, die ersten Jahrzehnte 
irgend einen Akt gesetzgeberischer Tätigkeit in Hin- 
sicht des öffentlichen Vereinsrechts gezeitigt hätten. 
Erst bei der Beratung des B.G.B. war im Reichs- 
tag der Antrag gestellt worden, in das Ein- 
führungsgesetz eine Bestimmung aufzunehmen, 
durch welche das Verbot der Verbindung von poli- 
tischen Vereinen untereinander aufgehoben werde. 
Die Annahme dieses Antrags wurde nur durch 
eine (in der Sitzung des Reichstags vom 27. Juni 
1896) durch den damaligen Reichskanzler Fürsten 
zu Hohenlohe abgegebene Erklärung verhindert, daß 
die Regierungen derjenigen Staaten, in denen ein 
solches Verbot bestehe, entschlossen seien, es durch 
Landesgesetz aufzuheben, und daß diese Anderung 
des bisherigen Rechtszustands unter allen Um- 
ständen früher eintreten werde, als dies durch ein 
Aufnehmen des Antrags in das Einführungsgesetz 
der Fall sein würde. In Preußen wurde aber zu- 
nächst noch der Versuch gemacht, die Aufhebung 
des Verbindungsverbots an eine weitere Ver- 
mehrung der polizeilichen Machtbefugnisse gegen- 
über den politischen Vereinen und Versammlungen 
zu knüpfen. Das Abgeordnetenhaus lehnte jedoch 
im Jahr 1897 eine bezügliche Gesetzesvorlage der 
Regierung ab, und nunmehr wurde, um das Ver- 
sprechen des Reichskanzlers einzulösen, das Reichs- 
gesetz vom 11. Dez. 1899 erlassen, wodurch das 
Verbindungsverbot für politische Vereine aufge- 
Vereins= und Versammlungsrecht. 
  
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hoben wurde. Der betreffende einzige Paragraph 
dieses reichsgesetzlichen Eingriffs in die einzelstaat- 
lichen Vereinsgesetze lautete: „Inländische Vereine 
jeder Art dürfen miteinander in Verbindung treten. 
Entgegenstehende landesgesetzliche Bestimmungen 
sind aufgehoben."“ 
Dieses Gesetz trat in den betreffenden Staaten, 
insbesondere also in Preußen, gleichzeitig mit dem 
B.G.B. in Kraft, während Bayern, Sachsen und 
andere schon früher entsprechende Landesgesetze er- 
lassen hatten. 
II. Das Reichsvereinsgesetz vom 19. April 
1908. Erst nach 37 Jahren wurde Art. 4, Ziff. 16 
der Reichsverfassung eigentlich erfüllt und erhielt 
Deutschland an Stelle der vielen einzelstaatlichen 
und voneinander abweichenden Vereinsgesetze ein 
einheitliches Vereins= und Versammlungsrecht: 
das Reichsvereinsgesetz (R.V.G.) vom 15. Mai 
1908. Seine wesentlichsten Bestimmungen sind: 
1. Nach dem grundlegenden § 1 R.V. G. haben 
„alle Reichsangehörige“ — das sind nur phy- 
sische, nicht juristische Personen — „das Recht, 
zu Zwecken, die den Strafgesetzen nicht zuwider- 
laufen, Vereine zu bilden und sich zu versammeln“. 
Dieses Recht haben also alle ohne Unterschied 
des Geschlechts, und es bedarf hiernach im all- 
gemeinen weder zur Bildung eines Vereins — 
politisch oder unpolitisch — noch zur Abhaltung 
einer Versammlung der obrigkeitlichen Geneh- 
migung. Die Verbindung der Vereine unter- 
einander ist ebenfalls frei. 
2. Nach § 3 R.V.G. muß jeder Verein, der 
eine Einwirkung auf politische Angelegen- 
heiten bezweckt, einen Vorstand und eine Satzung 
haben. Der Vorstand ist verpflichtet, binnen einer 
Frist von zwei Wochen nach Gründung des Ver- 
eins Satzung sowie das Verzeichnis der Mit- 
glieder des Vorstands der für den Sitz des Ver- 
eins zuständigen Polizeibehörde einzureichen (also 
schriftlich). Ebenso ist jede Anderung der Satzung 
sowie jede Anderung in der Zusammensetzung des 
Vorstands binnen einer Frist von zwei Wochen 
nach dem Eintritt der Anderung anzuzeigen. 
Was sind politische Angelegenheiten? Sie sind 
eine Unterart der öffentlichen Angelegenheiten, und 
zwar solche, die unmittelbar den Staat, seine Gesetz- 
gebung oder Verwaltung berühren, seine Organe 
und Funktionen in Bewegung setzen, welche die 
staatsbürgerlichen Rechte der Untertanen und die 
internationalen Beziehungen der Staaten zuein- 
ander in sich begreisen. Zu den politischen An- 
gelegenheiten gehören auch die sozialpolitischen. 
Vereine, die mit dem Halten rein wissenschaftlicher 
Vorträge über Fragen der Sozialpolitik lediglich 
die Belehrung ihrer Mitglieder bezwecken, gehören 
nicht hierher. 
Vereinigungen zur Erlangung günsliger Lohn- 
und Arbeitsbedingungen, Berufsvereine, Koali- 
tionsverbände, Gewerkschaften, gehören an sich 
dem Privatrecht an und sind keine politischen 
Vereine. Das Koalitionsrecht kann sich in Ver-
	        
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