Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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sich dieser Zweig des Versicherungswesens über 
alle Kulturländer aus. 1872 traten die bedeuten- 
deren Gesellschaften zu einem internationalen 
Transportversicherungsverband zusammen, dem 
gegenwärtig ungefähr 100 Gesellschaften mit einer 
Bruttoprämieneinnahme von über 100 Mill. Ml 
angehören. 
An die Seeversicherung schloß sich naturgemäß 
die Lebensversicherung an. Wenn auch 
schon aus den Jahren 1427 und 1428 Lebensver- 
sicherungsverträge bekannt sind, so konnte sich doch 
diese Versicherungsart erst entfalten, nachdem Sta- 
tistik und Mathematik die wissenschaftliche Grund- 
lage geschaffen hatten, wie dies im 17. Jahrh. 
geschah. Nicht weniger als 21 Sterblichkeitstafeln 
waren die Frucht dieser schwierigen Arbeiten. Die 
wichtigsten sind die von Kerseboom (1738). Süß- 
milch (1741), Deparcieux (1746), Price (1780), 
Heysham (1797). Babbage (1810), Morgan 
(1834), Ausell (1835), Brune (1837 und 1847), 
die Tafeln der 17 ältesten englischen Lebensversiche- 
rungsgesellschaften (1843), die Gothaer (1877) 
und die deutschen Sterblichkeitstafeln (1883). Je 
mehr die Statistik ausgebaut wird und ins Detail 
übergeht, desto mehr verliert die Versicherung 
überhaupt von der Natur des Glückspiels. Am 
besten ist dies bis jetzt bei der Lebensversicherung 
gelungen. Durch die Arbeit mehrerer Jahrhun- 
derte hat die Lebensversicherung für den Versicherer 
vollständig den Charakter eines contractus alea- 
torius verloren. Hierin liegt zum großen Teil 
der Grund ihrer großartigen Entwicklung. In 
Deutschland allein zählen wir gegenwärtig 59 
große Lebensversicherungsgesellschaften, die teils 
auf Aktien teils auf Gegenseitigkeit gegründet sind. 
Der Gedanke, nach Brandunglücksfällen sich 
gegenseitig zu helfen, war schon in den Gilden 
der karolingischen Zeit verwirklicht, wenn auch die 
ersten eigentlichen Brand= und Feuergilden 
in Norddeutschland dem 15. Jahrh. angehören. 
Zunächst auf engere Kreise lokalisiert, verbreiteten 
sie sich allmählich auch über größere Bezirke, be- 
sonders in Schleswig, in der Gegend von Ham- 
burg und an der unteren Weichsel. Vollständig 
durchgebildet ist aber die Feuerversicherung nir- 
gends vor Anfang des 17. Jahrh. Aber auch da 
noch konnte sie sich nicht in dem Maß wie z. B. 
die Lebensversicherung entfalten, da die öffentliche, 
d. h. staatliche Versicherung, wie sie jetzt noch mit 
verschwindend wenig Ausnahmen in ganz Deutsch- 
land für Gebäudeversicherung besteht, der pri- 
vaten noch lange Zeit das Feld streitig machte. 
Zwar hat England schon im 17. Jahrh. seine 
erste Privatseuerversicherungsgesellschaft („Hand 
in Hand“ 1696), aber Deutschland blieb ihr ver- 
schlossen bis zum Ausgang des 18. Jahrh. Die 
jetzt bestehenden deutschen Gesellschaften entstanden 
alle erst im 19. Jahrh. Während wir im Norden 
den ersten und meisten Feuerversicherungsgesell- 
schasten begegnen, finden wir sie, je mehr wir nach 
Süden kommen, desto später und desto spärlicher. 
Versicherungswesen. 
  
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Gleichzeitig mit der Feuerversicherung entstand 
die Vieh versicherung. Wird der Besitzer von 
Vieh unter gewissen Umständen vom Staat beim 
Eingehen eines Tieres entschädigt, so bleibt doch 
der Privatversicherung ein weites Feld, den Ge- 
schädigten zu Hilfe zu kommen, und zwar gerade 
den kleinen Viehbesitzern, da die großen durch 
Selbstversicherung sich zu schützen imstande sind. 
Aber die Schwierigkeiten dieser Versicherungsart 
sind sehr groß, da die genaue Abschätzung der Ge- 
fahr wegen der ungleichen Fütterung und Pflege, 
der Verschiedenheit des Dienstpersonals usw. sowie 
genaue Schadenaufstellung unmöglich ist. Je weiter 
die Risiken örtlich auseinander liegen, desto größer 
werden diese Schwierigkeiten. Daher sind kleine 
Orts- und Kreisverbände den großen Anstalten 
bei weitem vorzuziehen. Erwerbsgesellschaften be- 
schäftigen sich wegen des zu großen Risikos nicht 
mit der Viehversicherung. Dagegen gibt es mehrere 
Gegenseitigkeitsanstalten. Die Zahl des ver- 
sicherten Viehes ist verschwindend gegenüber dem 
nicht versicherten. Da es aber für den kleinen 
Landwirt von der größten Wichtigkeit wäre, wenn 
er sich gegen die Verluste des Viehsterbens ver- 
sicherte, wurde oft an eine staatliche Zwangsver- 
sicherung gedacht, für die dem Staat das Monopol 
zuerkannt würde. Indes wären die oben erwähnten 
Schwierigkeiten für eine solche Staatsanstalt noch 
größer als für die schon bestehenden Gesellschaften. 
Kleine Ortsverbände zu einem großen Verband 
zusammengeschlossen sind hier das einzig Richtige. 
Jüngeren Datums ist die Hagelversicherung. 
Zunächst verbanden sich auch hier wieder kleinere 
Bezirke zu gegenseitigem Schutz. War dies bei 
der Viehversicherung das einzig Richtige, so konnten 
Ortsverbände gegen Hagelschlag keine genügende 
Sicherheit gewähren. Hier müssen die Risiken 
weit auseinander liegen, da hierdurch die Gefahr 
sich vermindert. Es wurden daher auch gegen 
Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrh. 
größere Anstalten auf Gegenseitigkeit gegründet, 
die jedoch durch das hagelreiche Jahr 1823 mei- 
stens wieder weggesegt wurden. Auf ihren Trüm- 
mern erhoben sich andere Gesellschaften, die bis 
heute erfolgreich tätig sind. Das Kapital begann 
seine Arbeit in diesem Versicherungszweig einige 
Jahrzehnte später als die Gegenseitigkeitsgesell- 
schaften. Süddeutschland bietet der größeren Hagel- 
gefahr wegen dieser Versicherung große Schwierig- 
keiten. Daher gründete Bayern 1884 eine staatlich 
geleitete, jedoch nicht obligatorische Hagelversiche- 
rungsanstalt auf Gegenseitigkeit. 
Die Kranken= und Invalidenversiche- 
rung ist ja seit Einführung der Sozialversiche- 
rung zum größten Teil Gegenstand der staatlichen 
Tätigkeit geworden; wiewohl man annehmen 
möchte, daß infolgedessen die private Kranken- 
und Invalidenversicherung zurückgehen würde, ist 
das Gegenteil der Fall; hierbei ist die private 
Krankenversicherung in sehr vielen Fällen als 
Zusatzversicherung zur staatlichen gewählt worden. 
 
	        
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