Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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stem, um dessen wissenschaftlichen Ausbau er sich 
bemüht, sondern glaubt, in der modernen Kultur- 
welt europäischer Zivilisation im Staatssozialis= 
mus ein historisches Entwicklungsprodukt zu er- 
kennen, welches sich aus technischen, wirtschaftlichen, 
sozialen, kulturellen und vor allem auch aus ethi- 
chen und religiösen Einflüssen als seine beherr- 
schenden Bedingungen und Ursachen tatsächlich 
entwickelt hat, den Bedürfnissen des Gemein- 
schaftslebens, gerade auch den Bedürfnissen der 
modernen Kulturwelt durchaus entspricht und sich 
daher mit Notwendigkeit weiter entwickeln wird. 
Er sieht so im Staatssozialismus auch etwas 
Naturgemäßes, wie ebenso in gewissen Kernpunkten 
des sozialökonomischen Liberalismus und Indivi- 
dualismus. 
Auf Grund der bisherigen Darlegungen kann 
solgender Definitionsversuch gemacht wer- 
den: Staatssozialismus als wirtschafts= und so- 
zialpolitische Theorie — in größter Vollständigkeit 
von Ad. Wagner allein vertreten — ist die 
wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der 
im aller, besonders der untersten Volks- 
Reglung der gesamten 
in Güterproduktion, 
„Eigentumsordnung und 
Vertragsschließung, vor allem durch den Staat, 
aber auch durch staatsverwandte Gebilde (Ge- 
meinde, öffentlich-rechtliche Zweckverbände) im 
Sinn einer den jeweiligen allgemeinen Kultur- 
verhältnissen entsprechend gund gegen- 
seitigen Ergänzung von ökonomischem Individua- 
lismus und Kollektivismus, und zwar unter weitest 
gehender „Relativierung“ der Begriffe von Eigen- 
tum und Erbrecht besonders im Steuerwesen und 
Enteignungsverfahren durch regelndes Eingreifen 
in den privatwirtschaftlichen Güterverkehr bzw., so- 
weit technisch möglich und sozial zweckdienlich, durch 
vollständigen Ersatz privatkapitalistischer Unter- 
nehmungen durch gemeinwirtschaftliche Betriebe; 
gemäß einer grundsätzlichen möglichst vollständigen 
Heranziehung der diesbezüglichen kritischen Lei- 
stungen des extremen marxistischen Sozialismus 
jedoch unter ausdrücklicher, hauptsächlich auf öko- 
nomisch-psychologische Gründe gestützten Verwer- 
fung der sozialistischen „Nihilisierung“ der er- 
probten Vorzüge einer privatkapitalistischen Güter- 
produktions= und Güterverteilungsordnung. 
Rodbertus und Schäffle können mit 
ihren Theorien nicht restlos in die Formen dieses 
Staatssozialismus eingefüllt werden, obwohl an 
beide, vor allem an Schäffle, vielfach gedacht wird, 
wenn die Rede ist vom Staatssozialismus als Sy- 
stem. (Über Rodbertus vgl. Bd IV, Sp. 695 ff. 
Für Schäffle vgl. man u. a. seine Schlußzusam- 
menfassung in „Kapitalismus und Sozialismus“ 
(1870)). 
Ad. Wagner betont jedoch selbst eine gewisse 
Verwandtschaft der einschlägischen theoretischen Ge- 
dankengänge (Vorwort zur 3. Aufl. der Grund- 
legung S. vl ff): „Auch meine Stellung zu Rod- 
  
     
  
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Ver 
Staatssozialismus. 
  
70 
bertus und Schäffle ist keine andere geworden — 
denjenigen Autoren, welchen ich mich, bei vielfacher 
Abweichung in Einzelheiten und auch in Prinzipien- 
punkten, doch anderseits in gewissen prinzipiellen 
Auffassungen am nächsten sühle und von welchen 
ich jedenfalls glaube am meisten gelernt zu haben.“ 
„Die Hhhistorische Nationalökonomie“ und die 
übrigen Richtungen des sog., Kathedersozialismus" 
haben sich diesem Staatssozialismus gegenüber 
mehr ablehnend als beistimmend verhalten, dürfen 
also in der Tat verlangen, nicht ohne weiteres 
mit demselben zusammengeworfen zu werden, wie 
es in der in= und ausländischen, namentlich pole- 
mischen Literatur nicht selten geschehen ist. 
„-cinzelne historische Nationalökonomen wie 
Schönberg, Schmoller, auch G. Cohn u. a. ver- 
treten auch wohl einzelne Ansichten, welche man 
staatssozialistischt nennt und allenfalls so nennen 
kann. Aber sie begründen sie doch überwiegend 
anders und ziehen andere Konsequenzen daraus. 
Sie lehnen daher, von ihrem Standpunkt aus 
nicht unrichtig, die Bezeichnung „Staatssozialisten" 
für sich ab“ (Gr. 12 61). 
Der marxxistische Sozialismus, repräsentiert 
durch die geistigen Führer der sozialdemokratischen 
Partei, hat seine Stellung fixiert auf dem er- 
wähnten Parteitag zu Berlin (1892). 
Eine von Wilh. Liebknecht und auch dem revi- 
sionistischen G. v. Vollmar gemeinsam unterzeich- 
nete Resolution lautet: „Der Parteitag erklärt: 
Die Sozialdemokratie hat mit dem sog. Staats- 
sozialismus nichts gemein. Der sog. Staatssozia- 
lismus, insoweit er auf die Verstaatlichung zu 
fiskalischen Zwecken hinzielt, will den Staat an die 
Stelle der Privatkapitalisten setzen und ihm die 
Macht geben, dem arbeitenden Volk das Doppel- 
och der ökonomischen Ausbeutung und der politi- 
chen Sklaverei aufzuerlegen. DTer sog. Staats- 
sozialismus, insoweit er sich mit Sozialreform oder 
Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen be- 
schäftigt, istein System von Halbheiten, das seine 
Entstehung der Furcht vor der Sozialdemokratie 
verdankt. Die Sozialdemokratie ist ihrem 
Wesen nach revolutionär, der Staats- 
sozialismus konservativ. Sozialdemokratie und 
Staatssozialismus sind unversöhnliche Gegensätze" 
(vgl. dazu die Reden von W. Liebknecht, G. v. Voll- 
mar und A. Bebel). — Friedrich Engels macht in 
der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie 
zur Wissenschaft“ über „Staatssozialismus“ ab- 
lehnende Glossen (S. 37 ff, Fußnote). — In den 
„Sozialistischen Monatsheften", dem wissenschaft- 
lichen Organ des revisionistischen Flügels der So- 
zialdemokratie, findet sich eine ständige Rubrik: 
„Staatssozialismus“, worin referierend und kri- 
tisch die Vorgänge bürgerlicher Sozialreform und 
Sozialpolitik verzeichnet werden. 
Die Vertreter einer christlichen Gesell- 
schaftswissenschaft richten naturgemäß bei 
einem System, das sich „sozialistisch“ nennt, ihr 
Augenmerk auf folgendes: historischer Materialis= 
mus, Eigentum, Erbrecht, Staatsomnipotenz. Der 
historische Materialismus wird im System des 
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