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stem, um dessen wissenschaftlichen Ausbau er sich
bemüht, sondern glaubt, in der modernen Kultur-
welt europäischer Zivilisation im Staatssozialis=
mus ein historisches Entwicklungsprodukt zu er-
kennen, welches sich aus technischen, wirtschaftlichen,
sozialen, kulturellen und vor allem auch aus ethi-
chen und religiösen Einflüssen als seine beherr-
schenden Bedingungen und Ursachen tatsächlich
entwickelt hat, den Bedürfnissen des Gemein-
schaftslebens, gerade auch den Bedürfnissen der
modernen Kulturwelt durchaus entspricht und sich
daher mit Notwendigkeit weiter entwickeln wird.
Er sieht so im Staatssozialismus auch etwas
Naturgemäßes, wie ebenso in gewissen Kernpunkten
des sozialökonomischen Liberalismus und Indivi-
dualismus.
Auf Grund der bisherigen Darlegungen kann
solgender Definitionsversuch gemacht wer-
den: Staatssozialismus als wirtschafts= und so-
zialpolitische Theorie — in größter Vollständigkeit
von Ad. Wagner allein vertreten — ist die
wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der
im aller, besonders der untersten Volks-
Reglung der gesamten
in Güterproduktion,
„Eigentumsordnung und
Vertragsschließung, vor allem durch den Staat,
aber auch durch staatsverwandte Gebilde (Ge-
meinde, öffentlich-rechtliche Zweckverbände) im
Sinn einer den jeweiligen allgemeinen Kultur-
verhältnissen entsprechend gund gegen-
seitigen Ergänzung von ökonomischem Individua-
lismus und Kollektivismus, und zwar unter weitest
gehender „Relativierung“ der Begriffe von Eigen-
tum und Erbrecht besonders im Steuerwesen und
Enteignungsverfahren durch regelndes Eingreifen
in den privatwirtschaftlichen Güterverkehr bzw., so-
weit technisch möglich und sozial zweckdienlich, durch
vollständigen Ersatz privatkapitalistischer Unter-
nehmungen durch gemeinwirtschaftliche Betriebe;
gemäß einer grundsätzlichen möglichst vollständigen
Heranziehung der diesbezüglichen kritischen Lei-
stungen des extremen marxistischen Sozialismus
jedoch unter ausdrücklicher, hauptsächlich auf öko-
nomisch-psychologische Gründe gestützten Verwer-
fung der sozialistischen „Nihilisierung“ der er-
probten Vorzüge einer privatkapitalistischen Güter-
produktions= und Güterverteilungsordnung.
Rodbertus und Schäffle können mit
ihren Theorien nicht restlos in die Formen dieses
Staatssozialismus eingefüllt werden, obwohl an
beide, vor allem an Schäffle, vielfach gedacht wird,
wenn die Rede ist vom Staatssozialismus als Sy-
stem. (Über Rodbertus vgl. Bd IV, Sp. 695 ff.
Für Schäffle vgl. man u. a. seine Schlußzusam-
menfassung in „Kapitalismus und Sozialismus“
(1870)).
Ad. Wagner betont jedoch selbst eine gewisse
Verwandtschaft der einschlägischen theoretischen Ge-
dankengänge (Vorwort zur 3. Aufl. der Grund-
legung S. vl ff): „Auch meine Stellung zu Rod-
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Ver
Staatssozialismus.
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bertus und Schäffle ist keine andere geworden —
denjenigen Autoren, welchen ich mich, bei vielfacher
Abweichung in Einzelheiten und auch in Prinzipien-
punkten, doch anderseits in gewissen prinzipiellen
Auffassungen am nächsten sühle und von welchen
ich jedenfalls glaube am meisten gelernt zu haben.“
„Die Hhhistorische Nationalökonomie“ und die
übrigen Richtungen des sog., Kathedersozialismus"
haben sich diesem Staatssozialismus gegenüber
mehr ablehnend als beistimmend verhalten, dürfen
also in der Tat verlangen, nicht ohne weiteres
mit demselben zusammengeworfen zu werden, wie
es in der in= und ausländischen, namentlich pole-
mischen Literatur nicht selten geschehen ist.
„-cinzelne historische Nationalökonomen wie
Schönberg, Schmoller, auch G. Cohn u. a. ver-
treten auch wohl einzelne Ansichten, welche man
staatssozialistischt nennt und allenfalls so nennen
kann. Aber sie begründen sie doch überwiegend
anders und ziehen andere Konsequenzen daraus.
Sie lehnen daher, von ihrem Standpunkt aus
nicht unrichtig, die Bezeichnung „Staatssozialisten"
für sich ab“ (Gr. 12 61).
Der marxxistische Sozialismus, repräsentiert
durch die geistigen Führer der sozialdemokratischen
Partei, hat seine Stellung fixiert auf dem er-
wähnten Parteitag zu Berlin (1892).
Eine von Wilh. Liebknecht und auch dem revi-
sionistischen G. v. Vollmar gemeinsam unterzeich-
nete Resolution lautet: „Der Parteitag erklärt:
Die Sozialdemokratie hat mit dem sog. Staats-
sozialismus nichts gemein. Der sog. Staatssozia-
lismus, insoweit er auf die Verstaatlichung zu
fiskalischen Zwecken hinzielt, will den Staat an die
Stelle der Privatkapitalisten setzen und ihm die
Macht geben, dem arbeitenden Volk das Doppel-
och der ökonomischen Ausbeutung und der politi-
chen Sklaverei aufzuerlegen. DTer sog. Staats-
sozialismus, insoweit er sich mit Sozialreform oder
Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen be-
schäftigt, istein System von Halbheiten, das seine
Entstehung der Furcht vor der Sozialdemokratie
verdankt. Die Sozialdemokratie ist ihrem
Wesen nach revolutionär, der Staats-
sozialismus konservativ. Sozialdemokratie und
Staatssozialismus sind unversöhnliche Gegensätze"
(vgl. dazu die Reden von W. Liebknecht, G. v. Voll-
mar und A. Bebel). — Friedrich Engels macht in
der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie
zur Wissenschaft“ über „Staatssozialismus“ ab-
lehnende Glossen (S. 37 ff, Fußnote). — In den
„Sozialistischen Monatsheften", dem wissenschaft-
lichen Organ des revisionistischen Flügels der So-
zialdemokratie, findet sich eine ständige Rubrik:
„Staatssozialismus“, worin referierend und kri-
tisch die Vorgänge bürgerlicher Sozialreform und
Sozialpolitik verzeichnet werden.
Die Vertreter einer christlichen Gesell-
schaftswissenschaft richten naturgemäß bei
einem System, das sich „sozialistisch“ nennt, ihr
Augenmerk auf folgendes: historischer Materialis=
mus, Eigentum, Erbrecht, Staatsomnipotenz. Der
historische Materialismus wird im System des
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