Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Bereits im Jahr 1721/22 tat Vico den ersten 
Schritt zu einer zusammenfassenden Darstellung 
seiner rechtsphilosophischen Ideen in den 
beiden Schriften: De universi iuris uno prin- 
cipio et und fine liber unus, über die einheit- 
liche Grundlage alles Völkerrechts, und: De con- 
stantia iurisprudentis, über die Harmonie der 
Wissenschaft des Rechtsgelehrten mit der antiken 
Weisheit der Philosophie und Sprachkunst. Beide 
Schriften kommentierten in genialer Weise seine 
Anschauung von der objektiven und subjektiven 
Rechtsbildung aus einer Wurzel. Das römische 
Recht, entstanden in den verschiedenen Phasen der 
Römergeschichte, aus politischem Interesse, aus dem 
Selbsterhaltungstrieb, aus der Ausbildung der 
Volkseinheit, war für Vico nur „physisches“ 
Recht eines Einzelvolks, dessen Grundlagen zu 
erkennen das Recht allein nicht ausreiche; dazu 
bedürfe es der Kenntnis des „metaphysischen“, 
über aller Geschichte der Menschen und Völker 
thronenden ewigen Rechts, dem nachzuforschen 
seine Aufgabe sei. Nicht ohne Anschluß an Leib- 
nizsche Ideen sah Vico dergestalt in der Geschichte 
der Völker eine göttlich prästabilierte Harmonie 
zwischen dem positiven Gesetz, der Autorität und 
dem in der menschlichen Natur begründeten Natur- 
recht; das positive Recht führt den Menschen und 
die Gesellschaft auf das aller Gesetzgebung zu- 
grunde liegende Naturrecht. In der Geschichte 
der Völker entscheidet nicht der Zufall, sondern das 
ewige, von Gott selber begründete Gesetz. 
So sehr diese Schriften hinsichtlich der ange- 
wandten synthetischen Methode wie der erzielten 
Resultate bewundert wurden — für Deutschland 
sei erinnert an Goethe, den Filangieri mit Vico 
bekannt machte, an Orelli, Savigny, Bluntschli —, 
für Vico selbst waren sie nur Bausteine zum Hoch- 
bau seiner „neuen Wissenschaft“ (1725), 
der „Metaphysik des Menschengeschlechts“, d. i. der 
ewigen, idealen Gesetze, nach welchen die Vorsehung 
den Kreis des Zeit= und Lebenslaufs aller Völker 
in ihrem Entstehen, in ihren Fortschritten, Be- 
wegungen, Zuständen, in ihrem Anfang und Ende 
in einem großen Weltplan geordnet habe. Für 
eine objektive und ausgiebige Würdigung von 
Vicos neuer Wissenschaftslehre erscheint eine ge- 
nauere Darlegung derselben in ihrem ursprüng- 
lichen Zusammenhang um so notwendiger, als 
ihre Erfassung und Kritik die widersprechendsten 
Urteile gezeitigt hat, meist auf Grund mißver- 
siandener Einzelheiten, zu denen freilich der oft 
dunkle, axiomatische Stil, eine ungewöhnliche 
Terminologie, die Neigung zu sprachlicher und ge- 
schichtlicher Abschweifung bei einer zu sentenziösen, 
zu abgekürzten Beweisführung Anlaß bot. 
Bei Aufstellung der Prinzipien der „neuen 
Wissenschaft“ (erstes Buch) geht Vico von dem 
Satz aus, die Gesetze der Zivilisation seien nur 
aus ihren Ursprüngen erkennbar, letztere aber in- 
folge von Widersprüchen und des weitreichenden 
Mangels aller positiven Nachrichten nur durch eine 
Vico. 
  
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neue Methode historischer Kritik festzulegen, als 
deren Grundlage er die Sätze hinstellt: 1) Jedes 
Volk hat in seiner Zivilisation sein eigenstes Werk 
selbst geschaffen, abgesehen von der Außenwelt. 
2) Die Behauptungen von dervielgepriesenen Weis- 
heit oder Macht der ältesten Völker sind Über- 
treibungen. 3) Aus allegorischen oder kollektiven 
Wesen hat man individuelle gemacht (Herkules, 
Hermes). Auf Grund dieser den Zeiten F. A. 
Wolfs (Homer) und Niebuhrs (älteste Römer- 
geschichte) vorgreifenden historischen Skepsis ver- 
sucht Vico eine neue Grundlegung. 
Ineiner unabsehbaren Vielheit und Verschieden- 
heit von Tatsachen und Ideen, Sitten und Spra- 
chen tritt die Menschengeschichte uns entgegen, aber 
immer kehren in ihr gemeinsame Züge, gleiche 
Charaktere wieder; auch die noch so sehr durch 
Ort, Sprache, politische Umwälzungen getrennten 
Völker halten einen mehr oder weniger analogen 
Entwicklungsgang inne. Hier die regelmäßi- 
gen Erscheinungen von den zufälligen los- 
zulösen und die Grundgesetze der ersteren 
festzustellen, die allgemeine ewige Geschichte zu 
entwerfen, welche zeitlich in der Form von beson- 
dern Geschichten sich enthüllt, den idealen Kreis 
zu beschreiben, in welchem die reale Welt sich dreht: 
das ist der Gegenstand der „neuen Wissen- 
schaft“; sie umfaßt also die Philosophie und die 
Geschichte der Menschheit. Ihre Einheit gründet 
in der Religion, dem erzeugenden und erhal- 
tenden Prinzip der Gesellschaft. Man sollte nicht 
mehr von natürlicher Theologie sprechen; die 
„neue Wissenschaft“ ist eine soziale Theologie, der 
historische Erweis der Vorsehung, die Geschichte 
der Ratschlüsse, durch welche sie, oft mit dem Willen 
der Menschen, oft gegen ihn, den großen Mensch- 
heitsstaat leitet. — Das Ziel der „neuen Wissen- 
schaft“ ist ein praktisches: sie lehrt die Lebensbahn 
der Völker in ihrem Auf= und Niedergang ab- 
messen und danach ihr Lebensalter berechnen; ferner 
die Mittel abschätzen, die zur Erhebung auf die 
höchste Stufe der Zivilisation führen. — Die 
Quelle der „neuen Wissenschaft“ ist zweifach: 
Philosophie und Philologie; erstere geht auf die 
Betrachtung des Wahren durch die Vernunft, 
letztere auf die Erfassung des Wirklichen; sie ist 
die Wissenschaft der Tatsachen und der Sprachen. 
Die Philosophie hat ihre Theorien auf die Gewiß- 
heit der Tatsachen zu stützen, die Philologie der 
Philosophie ihre Theorien zu entlehnen, um die 
Tatsachen zur Höhe allgemeiner Wahrheiten zu 
erheben. Eine Philosophie, welche nicht imstande 
ist, den gefallenen und immer schwachen Menschen 
zu erheben aus seiner Verderbnis, hat, wie der 
Stoizismus und der Epikureismus, keinen Raum 
in der „neuen Wissenschaft“, wohl aber der Plato- 
nismus; denn er steht im Einklang mit allen Ge- 
setzgebern hinsichtlich der dreifachen Grundlage 
ihres Systems: der Existenz einer göttlichen Vor- 
sehung, der Notwendigkeit der Mäßigung aller 
Leidenschaften und ihrer Umbildung zu menschen-
	        
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