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Testament waren erst mit Erfüllung der religiösen
Forderungen acta iusta; das erste Gericht war
das der Götter; an dieses ging der Appell des
Gekränkten; die Götter waren Zeugen und Richter.
Auf den Spruch der religiösen, sich vervollkomm-
nenden Richtergewalt traf den Schuldigen Aus-
scheidung, Fluch, Tod. Der gleiche Spruch trat
in Geltung gegen ein Volk; die Kriege (bella
iusta et pia) waren Gottesurteile. Auch
der Zweikampf war in der Behinderung der
Einzel- und Sonderkriege ein analoges Gottes-
urteil. Das Heroenrecht war das der Gewalt,
der einzige Zügel das gegebene Wort, heilig, un-
wandelbar gleich der Religion (fas, fari, fatum; F
Inhigenie, Lucretia). Gegen die Launen der
Gewalt galt nicht natürliche, aber bürgerliche
Billigkeit (aequitas), ein Prinzip des Nutzens,
der gesellschaftlichen Erhaltung, ähnlich der spä-
teren Staatsraison in der Politik. — Aus dem
Heroenrecht entwickeln sich auf dieser sozialen
Grundlage höhere Formen der öffent-
lichen Gewalt, vorab der Aristokratie, dann
die Monarchie und die Demokratie. In dem Maß
als Demokratie und Monarchie die Aristokratien
verdrängen, verliert das politische Gesetz zugunsten
des Zivilgesetzes an Bedeutung: in letzterem ver-
schmelzen sich die privaten Interessen leichter mit
den öffentlichen, in ersteren, zumal in den Mon-
archien, treten die öffentlichen Interessen oft hinter
die privaten zurück, und bei der zunehmenden
Milderung der Sitten treten Sonderbestrebungen
in den Vordergrund, und zwar in dem Maß, als
die Vaterlandsliebe abnimmt. — Die Regie-
rungen der zivilisierten Zeiten zielen
angesichts der Gleichheit der allen Menschen von
Natur gemeinsamen Geistesgaben auf die Ver-
wirklichung der bürgerlichen und politi-
schen Gleichheit. Die Gleichheit der Bürger
beruht auf der Gemeinsamkeit der Herrschaft über
das Gemeinwesen oder auf der Gemeinsamkeit des
Gehorchens gegen einen Monarchen, der an erster
Stelle allen gemeinsame Gesetze gibt. Die Mon-
archie beruht ihrem Entstehen nach auf dem Schutz
der Schwachen, ihre Erhaltung auf volkstümlichem
Regieren. Der Fürst stellt die Gleichheit wenig-
stens im gemeinsamen Gehorsam her; schon die
Erniedrigung der Großen ist für die Kleinen eine
Befreiung; mit schrankenloser Gewalt bekleidet,
befragt der Fürst nicht das Gesetz, wohl aber die
natürliche Billigkeit. Die Monarchie ist für die
Zeiten der fortgeschrittensten Zivilisation die na-
turgemäßeste Regierungsweise; sie mildert die
Strenge der ersten Zeiten bis zur gütigen Be-
handlung der Sklaven, zur besseren Behandlung
der Feinde, zur Achtung des Rechts der Be-
siegten. — Solange die Nationen unabhängig
bleiben, machen sie drei Regierungsweisen
durch: die göttliche (theokratische) Gesetzgebung
begründet die häusliche Monarchie und damit den
Beginn der menschlichen; die heroische (aristo-
kratische) bildet das Gemeinwesen und schränkt
Vico.
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die Mißbräuche der Gewalt ein; die volkstümliche
stellt die natürliche Gleichheit her, und die mon-
archische unterdrückt die jetzt entstehende Anarchie
und die öffentliche Korruption. — Ein verdor-
benes Volk verfällt zunächst der Sklaverei der
entfesselten Leidenschaften, dann der Sklaverei
einer sittlich höher stehenden Nation. Findet ein
verkommenes Volk nicht den Monarchen oder den
Eroberer, der es rettet, so verfällt es der innern
Auflösung, aus der die Vorsehung in strenger
Zucht es seinem Wiedererstehen entgegenführt,
wie dies bei der Erhebung der europäischen Ge-
sellschaft auf den Ruinen des Römerreichs der
all war.
Die Berufung Vicos bei seiner bisherigen
Darstellung vorzugsweise auf die alte Geschichte
wendet er im fünften Buch: Wiederkehr der-
selben Revolutionen, wenn die zer-
störten Gesellschaften aus ihren Ruinen
sich erheben, auf die mittleren Zeiten an. —
Die Schlußfolgerung der „neuen Wissenschaft"
ist: Die soziale Welt ist das Werk der freien
Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten,
aber darum nicht minder das Werk der Vor-
sehung, d. i. einer oft den Sonderzwecken des
Menschen entgegengesetzten, ihnen stets überlegenen
göttlichen Intelligenz; die Vorsehung übt durch
positive Gesetze keinerlei Zwang; sie bedient sich
zur Weltregierung der frei von den Menschen ge-
wählten Sitten.
Folgt man diesen weit ausholenden, die Lücken
des Wissens phantasiereich ergänzenden Konzeptio-
nen und versucht ihre Grundgedanken zu-
sammenzufassen, so springt sofort ein Zweifaches ins
Auge, sowohl die kühne Uberholung der bisherigen
Geschichts= und Gesellschaftsanschauungen wie das
strenge Festhalten an ihrer religiösen Grundlage.
Für Vico ist die Geschichte nicht ein Fatum
(Hobbes, Machiavelli, Spinoza), auch nicht eine
lediglich nach teleologischen (Bodin) oder theo-
logischen Gesichtspunkten (Bossuet, Pascal) sich
ordnende Reihenfolge von Zeiten und Zuständen;
sie ist das Werk eines göttlichen Weltplans,
aber der Werkmeister ist der Mensch, die Selbst-
bestimmung der Einzelindividuen und der Einzel-
völker, die immer nur diejenigen Sozial- und
Staatsformen annehmen, welche der Selbsterhal-
tungstrieb vorschreibt. Die hier alles ordnende,
ausgleichende, gesetzgebende Macht ist die Vor-
sehung, Ausgangs= und Zielpunkt jenes großen
in der Zeitgeschichte sich vollziehenden Kreislaufs,
der von dem Sündenfall und der notwendig
folgenden Verwilderung ausgehend die Menschen
bis zur Höhe der Humanität und Zivilisation
geleitet, in der sich die soziale Natur des Menschen
vollendet, um dann, in fortschreitendem Verfall
zum Ausgangspunkt zurückstrebend, einen neuen,
vollendeteren Kreislauf zu beginnen. Das Grund-
gesetz dieser Bewegung ist die schöpferische und
regenerierende Macht der Religion, die allein
die Antwort auf alle Welträtsel weiß. Auf dem