Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

863 
Testament waren erst mit Erfüllung der religiösen 
Forderungen acta iusta; das erste Gericht war 
das der Götter; an dieses ging der Appell des 
Gekränkten; die Götter waren Zeugen und Richter. 
Auf den Spruch der religiösen, sich vervollkomm- 
nenden Richtergewalt traf den Schuldigen Aus- 
scheidung, Fluch, Tod. Der gleiche Spruch trat 
in Geltung gegen ein Volk; die Kriege (bella 
iusta et pia) waren Gottesurteile. Auch 
der Zweikampf war in der Behinderung der 
Einzel- und Sonderkriege ein analoges Gottes- 
urteil. Das Heroenrecht war das der Gewalt, 
der einzige Zügel das gegebene Wort, heilig, un- 
wandelbar gleich der Religion (fas, fari, fatum; F 
Inhigenie, Lucretia). Gegen die Launen der 
Gewalt galt nicht natürliche, aber bürgerliche 
Billigkeit (aequitas), ein Prinzip des Nutzens, 
der gesellschaftlichen Erhaltung, ähnlich der spä- 
teren Staatsraison in der Politik. — Aus dem 
Heroenrecht entwickeln sich auf dieser sozialen 
Grundlage höhere Formen der öffent- 
lichen Gewalt, vorab der Aristokratie, dann 
die Monarchie und die Demokratie. In dem Maß 
als Demokratie und Monarchie die Aristokratien 
verdrängen, verliert das politische Gesetz zugunsten 
des Zivilgesetzes an Bedeutung: in letzterem ver- 
schmelzen sich die privaten Interessen leichter mit 
den öffentlichen, in ersteren, zumal in den Mon- 
archien, treten die öffentlichen Interessen oft hinter 
die privaten zurück, und bei der zunehmenden 
Milderung der Sitten treten Sonderbestrebungen 
in den Vordergrund, und zwar in dem Maß, als 
die Vaterlandsliebe abnimmt. — Die Regie- 
rungen der zivilisierten Zeiten zielen 
angesichts der Gleichheit der allen Menschen von 
Natur gemeinsamen Geistesgaben auf die Ver- 
wirklichung der bürgerlichen und politi- 
schen Gleichheit. Die Gleichheit der Bürger 
beruht auf der Gemeinsamkeit der Herrschaft über 
das Gemeinwesen oder auf der Gemeinsamkeit des 
Gehorchens gegen einen Monarchen, der an erster 
Stelle allen gemeinsame Gesetze gibt. Die Mon- 
archie beruht ihrem Entstehen nach auf dem Schutz 
der Schwachen, ihre Erhaltung auf volkstümlichem 
Regieren. Der Fürst stellt die Gleichheit wenig- 
stens im gemeinsamen Gehorsam her; schon die 
Erniedrigung der Großen ist für die Kleinen eine 
Befreiung; mit schrankenloser Gewalt bekleidet, 
befragt der Fürst nicht das Gesetz, wohl aber die 
natürliche Billigkeit. Die Monarchie ist für die 
Zeiten der fortgeschrittensten Zivilisation die na- 
turgemäßeste Regierungsweise; sie mildert die 
Strenge der ersten Zeiten bis zur gütigen Be- 
handlung der Sklaven, zur besseren Behandlung 
der Feinde, zur Achtung des Rechts der Be- 
siegten. — Solange die Nationen unabhängig 
bleiben, machen sie drei Regierungsweisen 
durch: die göttliche (theokratische) Gesetzgebung 
begründet die häusliche Monarchie und damit den 
Beginn der menschlichen; die heroische (aristo- 
kratische) bildet das Gemeinwesen und schränkt 
Vico. 
  
864 
die Mißbräuche der Gewalt ein; die volkstümliche 
stellt die natürliche Gleichheit her, und die mon- 
archische unterdrückt die jetzt entstehende Anarchie 
und die öffentliche Korruption. — Ein verdor- 
benes Volk verfällt zunächst der Sklaverei der 
entfesselten Leidenschaften, dann der Sklaverei 
einer sittlich höher stehenden Nation. Findet ein 
verkommenes Volk nicht den Monarchen oder den 
Eroberer, der es rettet, so verfällt es der innern 
Auflösung, aus der die Vorsehung in strenger 
Zucht es seinem Wiedererstehen entgegenführt, 
wie dies bei der Erhebung der europäischen Ge- 
sellschaft auf den Ruinen des Römerreichs der 
all war. 
Die Berufung Vicos bei seiner bisherigen 
Darstellung vorzugsweise auf die alte Geschichte 
wendet er im fünften Buch: Wiederkehr der- 
selben Revolutionen, wenn die zer- 
störten Gesellschaften aus ihren Ruinen 
sich erheben, auf die mittleren Zeiten an. — 
Die Schlußfolgerung der „neuen Wissenschaft" 
ist: Die soziale Welt ist das Werk der freien 
Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten, 
aber darum nicht minder das Werk der Vor- 
sehung, d. i. einer oft den Sonderzwecken des 
Menschen entgegengesetzten, ihnen stets überlegenen 
göttlichen Intelligenz; die Vorsehung übt durch 
positive Gesetze keinerlei Zwang; sie bedient sich 
zur Weltregierung der frei von den Menschen ge- 
wählten Sitten. 
Folgt man diesen weit ausholenden, die Lücken 
des Wissens phantasiereich ergänzenden Konzeptio- 
nen und versucht ihre Grundgedanken zu- 
sammenzufassen, so springt sofort ein Zweifaches ins 
Auge, sowohl die kühne Uberholung der bisherigen 
Geschichts= und Gesellschaftsanschauungen wie das 
strenge Festhalten an ihrer religiösen Grundlage. 
Für Vico ist die Geschichte nicht ein Fatum 
(Hobbes, Machiavelli, Spinoza), auch nicht eine 
lediglich nach teleologischen (Bodin) oder theo- 
logischen Gesichtspunkten (Bossuet, Pascal) sich 
ordnende Reihenfolge von Zeiten und Zuständen; 
sie ist das Werk eines göttlichen Weltplans, 
aber der Werkmeister ist der Mensch, die Selbst- 
bestimmung der Einzelindividuen und der Einzel- 
völker, die immer nur diejenigen Sozial- und 
Staatsformen annehmen, welche der Selbsterhal- 
tungstrieb vorschreibt. Die hier alles ordnende, 
ausgleichende, gesetzgebende Macht ist die Vor- 
sehung, Ausgangs= und Zielpunkt jenes großen 
in der Zeitgeschichte sich vollziehenden Kreislaufs, 
der von dem Sündenfall und der notwendig 
folgenden Verwilderung ausgehend die Menschen 
bis zur Höhe der Humanität und Zivilisation 
geleitet, in der sich die soziale Natur des Menschen 
vollendet, um dann, in fortschreitendem Verfall 
zum Ausgangspunkt zurückstrebend, einen neuen, 
vollendeteren Kreislauf zu beginnen. Das Grund- 
gesetz dieser Bewegung ist die schöpferische und 
regenerierende Macht der Religion, die allein 
die Antwort auf alle Welträtsel weiß. Auf dem
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.