Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Grundgesetz der Religion beruhen die Triebkräfte 
alles geschichtlichen Lebens, die Gewöhnung, dief 
Bedürfnisse, die Leidenschaften, selbst die Verderb- 
nisse; auf ihm die Gesetze der Zeitteilung und 
Zeitengliederung, die trilogische Ordnung der 
Weltperioden (Götter-, Heroen-, Menschenalter), 
auf ihm die trilogische Sprachenfolge, die Drei- 
heit der sich ablösenden Gesellschaftsordnungen. 
Nach ihm ist die jedem Vollbild eines Volks 
aufgeprägte Physiognomie, die jeder Einzelerschei- 
nung eigne Individualität zu bemessen; ob die 
gegenseitigen Abstände der Völker in Zeit, Ort, 
Kultur noch so groß, ob die Gegensätze noch so 
schroff, ob die Verwicklungen und Verkettungen 
des Volks= und Völkerlebens noch so unentwirrbar 
scheinen, in allem enthüllt sich der eindringenden 
Forschung das große einheitliche Gesetz der meta- 
physischen Weltordnung der von Gott 
kommenden, zu Gott führenden Religion. Es ist 
mit dieser Metaphysik ähnlich, nach Karl Werners 
geistvoller Deutung, wie mit der Physik der kos- 
mischen Weltordnung, wie mit den Bewegungen 
der in sich geschlossenen, nach Sondergesetzen krei- 
senden Sonnensysteme inmitten der Sphärenhar= 
monie: alles ordnet sich um eine Zentrale, 
einen Brenn= und Mittelpunkt. Der Kreislauf 
der vorchristlichen, antiken Zivilisation wie der 
christlichen im großen Weltleben kennt keine andere 
Gesetzmäßigkeit: erstere bis auf ihren Höhepunkt 
in der griechischen Kultur, in der römischen 
Staatskunst, in der hebräischen Weisheit trägt 
einen vorbereitenden, letztere in der nationalen 
wie internationalen Ordnung einen vollendenden 
Charakter; beide zeigen aber in der Trilogie des 
jugendlichen Aufschwungs, der selbstmächtigen Ver- 
weltlichung des religiösen Lebens und des hier 
wurzelnden Verfalls gleichartigen Charakter wie 
das gleiche Ende in dem durch erschütternde Kata- 
strophen herbeigeführten Untergang, welcher, wie 
Vico will, zur Wiedergeburt in einem neuen 
Kreislauf führt. 
Es ist schwer, einer Erscheinung wie Vicos 
„neuer Wissenschaft“, die im ganzen Verlauf der 
Geschichte der neueren Philosophie eine so bedeu- 
tende Stelle sich bewahrt, gerecht zu werden. Die 
Kritik darf nicht übersehen, daß die „neue Wissen- 
schaft“", das Kind stiller, grübelnder Gedanken 
eines mit schweren Lebensschicksalen kämpfenden 
Gelehrten, unvollendet geblieben ist, daß sie die 
Mängel der damaligen Wissenschaftsgebarung, 
zumal auf theologischem und geschichtlichem Ge- 
biet, zeigt wie auch deren Lücken, daß sie be- 
rechtigten Anlaß zu entgegengesetzter Beurteilung 
bietet. So können wir auch Karl Werners Ver- 
such der Erläuterung und Ergänzung des Vico- 
schen Systems nicht beitreten. Wir wissen davon 
nichts und möchten lieber Vicos System für lücken- 
haft halten, zumal ihm ein tieferes Eindringen in 
die eschatologische Theologie wie in die Theorie 
und Geschichte der Offenbarung ganz andere 
Lösungen nahegelegt haben würde. Hier wie in 
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl. 
Veco. 
  
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den Geschichtswissenschaften, die damals, was Um- 
ang und kritische Grundlagen anbetrifft, kaum 
sich zu entwickeln begannen, zeigen sich dieselben 
Lücken, deren größte unstreitig in der Nicht- 
einbeziehung des dritten Faktors der geschichts- 
philosophischen Weltbetrachtung, der Natur neben 
Mensch und Gott, besteht. Auch von den damals 
in England anhebenden Wirtschaftswissenschaften, 
dem Ausschwung der Sozialwissenschaften bis zur 
Statistik und Demographie hatte Vico keine Vor- 
stellung. Allein man darf bei seiner Beurteilung 
nicht außer acht lassen, daß bei jeder neuen Wissen- 
schaft nicht ihr Ausbau auf festgelegter Grundlage, 
sondern ihre Anfänge das Schwierigste sind und 
in diesen Anfängen die Sicherung der Prinzipien, 
Und hier steht Vico ein ganz ungewöhnlich hohes 
Recht auf Anerkennung insofern zu, als er die bis 
dahin ausschließlich maßgebende theologische 
Grundanschauung des Welt= und Geschichtslebens 
durch die humanistische, d. h. den Menschen 
in seiner Gesamtentwicklung berücksichtigende er- 
weitert bzw. gerechtfertigt und verteidigt hat. In 
dieser Beziehung war Vicos Lehre in der Tat neu, 
d. h. sie trat über das Gewohnte hinaus und be- 
handelte Probleme, die vor ihm zu lösen niemand 
versucht hatte. Zudem behandelte er letztere nach 
neuer Method durch Heranziehung aller ihm 
bekannten Wissenschaften und die Verwendung 
ihrer Resultate für die biologisch-soziale 
Völker= und Menschheitskunde, deren Begründer 
er in seiner Geschichtsphilosophie wurde. Ohne 
demgemäß irgend etwas von dem Dunkeln, Un- 
fertigen und Sprunghaften in Vicos Lehre zu 
übersehen, darf die abschließende Würdi- 
gung doch nicht ihm und seiner „neuen Wissen- 
schaft“ zur Last legen, was Zeit, Umgebung und 
kurzsichtige Kritik verschulden. Seine Fehler er- 
klären sich aus dem Geist einer religiös und 
sittlich sinkenden Zeit, in welcher höfische Ver- 
götterung aller höheren Sozialeinflüsse, der ödeste 
cartesianische Rationalismus das Gelehrtenwesen, 
gallikanisch-jansenistische Verirrungen die Theo- 
logie und das Kirchenwesen beherrschten. Es ist 
kein geringes Verdienst Vicos, dieser in ihrer kon- 
ventionellen Nichtigkeit sich auslebenden Welt die 
großen regeneratorischen Gedanken einer echt christ- 
lichen Wissenschaft entgegengestellt zu haben um 
den Preis eines lebenslangen Kampfs für seine 
Ideen. Die besten seiner Kritiker sind heute einig 
in der Anerkennung seiner für jene Zeit seltenen 
und umfassenden Gelehrsamkeit, des hohen Flugs, 
der vollen Freiheit und Selbständigkeit seiner Ge- 
danken- und Ideenwelt. Er war ein mehr intui- 
tiver, d. h. der verborgenen Natur der Dinge 
und ihrer Zusammenhänge erfassender Denker, 
dem für deren systematische Begründung nicht Zeit 
und Muße genug zu Gebot stand. Und doch, wie 
Großes hat er geleistet! Wen hätten seine Rechts- 
studien nicht an Mommsens Römergeschichte, wen 
seine Behandlung der ältesten Verfassungsgeschichte 
Roms nicht an Niebuhrs altrömische Königs- 
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