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Grundgesetz der Religion beruhen die Triebkräfte
alles geschichtlichen Lebens, die Gewöhnung, dief
Bedürfnisse, die Leidenschaften, selbst die Verderb-
nisse; auf ihm die Gesetze der Zeitteilung und
Zeitengliederung, die trilogische Ordnung der
Weltperioden (Götter-, Heroen-, Menschenalter),
auf ihm die trilogische Sprachenfolge, die Drei-
heit der sich ablösenden Gesellschaftsordnungen.
Nach ihm ist die jedem Vollbild eines Volks
aufgeprägte Physiognomie, die jeder Einzelerschei-
nung eigne Individualität zu bemessen; ob die
gegenseitigen Abstände der Völker in Zeit, Ort,
Kultur noch so groß, ob die Gegensätze noch so
schroff, ob die Verwicklungen und Verkettungen
des Volks= und Völkerlebens noch so unentwirrbar
scheinen, in allem enthüllt sich der eindringenden
Forschung das große einheitliche Gesetz der meta-
physischen Weltordnung der von Gott
kommenden, zu Gott führenden Religion. Es ist
mit dieser Metaphysik ähnlich, nach Karl Werners
geistvoller Deutung, wie mit der Physik der kos-
mischen Weltordnung, wie mit den Bewegungen
der in sich geschlossenen, nach Sondergesetzen krei-
senden Sonnensysteme inmitten der Sphärenhar=
monie: alles ordnet sich um eine Zentrale,
einen Brenn= und Mittelpunkt. Der Kreislauf
der vorchristlichen, antiken Zivilisation wie der
christlichen im großen Weltleben kennt keine andere
Gesetzmäßigkeit: erstere bis auf ihren Höhepunkt
in der griechischen Kultur, in der römischen
Staatskunst, in der hebräischen Weisheit trägt
einen vorbereitenden, letztere in der nationalen
wie internationalen Ordnung einen vollendenden
Charakter; beide zeigen aber in der Trilogie des
jugendlichen Aufschwungs, der selbstmächtigen Ver-
weltlichung des religiösen Lebens und des hier
wurzelnden Verfalls gleichartigen Charakter wie
das gleiche Ende in dem durch erschütternde Kata-
strophen herbeigeführten Untergang, welcher, wie
Vico will, zur Wiedergeburt in einem neuen
Kreislauf führt.
Es ist schwer, einer Erscheinung wie Vicos
„neuer Wissenschaft“, die im ganzen Verlauf der
Geschichte der neueren Philosophie eine so bedeu-
tende Stelle sich bewahrt, gerecht zu werden. Die
Kritik darf nicht übersehen, daß die „neue Wissen-
schaft“", das Kind stiller, grübelnder Gedanken
eines mit schweren Lebensschicksalen kämpfenden
Gelehrten, unvollendet geblieben ist, daß sie die
Mängel der damaligen Wissenschaftsgebarung,
zumal auf theologischem und geschichtlichem Ge-
biet, zeigt wie auch deren Lücken, daß sie be-
rechtigten Anlaß zu entgegengesetzter Beurteilung
bietet. So können wir auch Karl Werners Ver-
such der Erläuterung und Ergänzung des Vico-
schen Systems nicht beitreten. Wir wissen davon
nichts und möchten lieber Vicos System für lücken-
haft halten, zumal ihm ein tieferes Eindringen in
die eschatologische Theologie wie in die Theorie
und Geschichte der Offenbarung ganz andere
Lösungen nahegelegt haben würde. Hier wie in
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl.
Veco.
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den Geschichtswissenschaften, die damals, was Um-
ang und kritische Grundlagen anbetrifft, kaum
sich zu entwickeln begannen, zeigen sich dieselben
Lücken, deren größte unstreitig in der Nicht-
einbeziehung des dritten Faktors der geschichts-
philosophischen Weltbetrachtung, der Natur neben
Mensch und Gott, besteht. Auch von den damals
in England anhebenden Wirtschaftswissenschaften,
dem Ausschwung der Sozialwissenschaften bis zur
Statistik und Demographie hatte Vico keine Vor-
stellung. Allein man darf bei seiner Beurteilung
nicht außer acht lassen, daß bei jeder neuen Wissen-
schaft nicht ihr Ausbau auf festgelegter Grundlage,
sondern ihre Anfänge das Schwierigste sind und
in diesen Anfängen die Sicherung der Prinzipien,
Und hier steht Vico ein ganz ungewöhnlich hohes
Recht auf Anerkennung insofern zu, als er die bis
dahin ausschließlich maßgebende theologische
Grundanschauung des Welt= und Geschichtslebens
durch die humanistische, d. h. den Menschen
in seiner Gesamtentwicklung berücksichtigende er-
weitert bzw. gerechtfertigt und verteidigt hat. In
dieser Beziehung war Vicos Lehre in der Tat neu,
d. h. sie trat über das Gewohnte hinaus und be-
handelte Probleme, die vor ihm zu lösen niemand
versucht hatte. Zudem behandelte er letztere nach
neuer Method durch Heranziehung aller ihm
bekannten Wissenschaften und die Verwendung
ihrer Resultate für die biologisch-soziale
Völker= und Menschheitskunde, deren Begründer
er in seiner Geschichtsphilosophie wurde. Ohne
demgemäß irgend etwas von dem Dunkeln, Un-
fertigen und Sprunghaften in Vicos Lehre zu
übersehen, darf die abschließende Würdi-
gung doch nicht ihm und seiner „neuen Wissen-
schaft“ zur Last legen, was Zeit, Umgebung und
kurzsichtige Kritik verschulden. Seine Fehler er-
klären sich aus dem Geist einer religiös und
sittlich sinkenden Zeit, in welcher höfische Ver-
götterung aller höheren Sozialeinflüsse, der ödeste
cartesianische Rationalismus das Gelehrtenwesen,
gallikanisch-jansenistische Verirrungen die Theo-
logie und das Kirchenwesen beherrschten. Es ist
kein geringes Verdienst Vicos, dieser in ihrer kon-
ventionellen Nichtigkeit sich auslebenden Welt die
großen regeneratorischen Gedanken einer echt christ-
lichen Wissenschaft entgegengestellt zu haben um
den Preis eines lebenslangen Kampfs für seine
Ideen. Die besten seiner Kritiker sind heute einig
in der Anerkennung seiner für jene Zeit seltenen
und umfassenden Gelehrsamkeit, des hohen Flugs,
der vollen Freiheit und Selbständigkeit seiner Ge-
danken- und Ideenwelt. Er war ein mehr intui-
tiver, d. h. der verborgenen Natur der Dinge
und ihrer Zusammenhänge erfassender Denker,
dem für deren systematische Begründung nicht Zeit
und Muße genug zu Gebot stand. Und doch, wie
Großes hat er geleistet! Wen hätten seine Rechts-
studien nicht an Mommsens Römergeschichte, wen
seine Behandlung der ältesten Verfassungsgeschichte
Roms nicht an Niebuhrs altrömische Königs-
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