Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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geschichte, wen seine Kritik der Homerlegenden 
nicht an Wolfs Arbeiten erinnert? Und haben die 
Sozialforschung und vergleichende Sprachforschung 
nicht mehr als ein Jahrhundert gebraucht, um da 
einzusetzen, wo Vico so tiefsinnige Grundlagen 
dazu gelegt? Doch Vico hat noch Größeres voll- 
bracht. Er wurde durch seine „neue Wissenschaft“ 
der erste Meister der Neuzeit in der hohen Kunst, 
dem Gedanken Gottes in der Weltgeschichte for- 
schend, suchend und findend nachzugehen. Von 
allen, die ihm auf dem schwierigen Weg gefolgt 
sind, hat keiner einen andern Grund für die „neue 
Wissenschaft“ zu legen vermocht; viele sind ab- 
geirrt, die besten von ihnen bis auf J. v. Müller 
und IJ. v. Görres sind stets auf Vicos Pfad 
zurückgekommen. Die wachsende Anerkennung 
dieser hohen Bedeutung liegt unseres Erachtens 
darin, daß er die drei Grundbedingungen 
festgestellt hat, ohne die für das moderne Denken 
alle Geschichtsphilosophie stets ein Rätsel 
bleiben wird: die Auffassung aller Geschichte als 
eines unteilbaren Ganzen, der Verzicht auf alles 
rationalisierende Denken für die Auffindung der 
Gesetze dieser Einheit und ihr Verständnis, die 
Notwendigkeit einer Synthese aller Wissenschaften 
zur Begründung dieses Gesetzes aller Geschichte. 
Die Auffassung der großen, unteilbaren Ein- 
heit der Geschichte als eines organischen, von ein 
und demselben Leben durchdrungenen Ganzen hatte 
Vico nicht aus sich; sie bildet einen wesentlichen 
Teil der christlichen, unmittelbar in der Offen- 
barung wurzelnden Weltanschauung. Welt- 
geschichte ist bis auf Idee und Begriff die 
Schöpfung des katholischen Christen- 
tums, herausgewachsen aus dem Universalismus 
der Offenbarungstatsachen. Was Paulus auf dem 
Areshügel zu Athen (Apg. 17, 22 ff) über das 
Wesen, den Ursprung und das Ziel des Geschlechts 
predigte als von göttlicher Art, aus einem Blut 
stammend, eine große Familie bildend unter dem 
Gesetz eines von den Toten auferstandenen Mannes, 
welcher der Vielheit der Völker alle Zeit und allen 
Raum, „geordnete Zeitpunkte und bestimmte 
Grenzbestimmungen ihres Wohnens“ belassen mit 
der einen gemeinsamen Zweckbestimmung, „daß 
sie Gott suchten, ob sie ihn wohl ertasteten und 
fänden“, — das war für Vico der Grund= und 
Aufriß zum Hochbau seines Lebenswerks, der 
„Metaphysik“ der Geschichte. Bei der Erforschung 
der politischen, rechtlichen, militärischen, sozialen 
und moralischen Veränderungen der antiken, zumal 
römischen Staatswelt erkannte er das religiöse 
Prinzip als das eine, gemeinsame, unveränderliche 
Lebensgesetz aller geschichtlichen Entwicklung, die 
wunderbare Vor= und Zubereitung der höchsten 
Entfaltung dieses Gesetzes in der christlichen Welt 
und ihrer Zivilisation. War Vico in dieser Hin- 
sicht ein Schüler der großen Geschichtsauffassung 
eines Klemens von Alexandrien, eines Irenäus 
und Augustinus bis herab zu Bossuet, so ging er 
als einer der ersten und tiessinnigsten über sie 
  
Vico. 
  
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hinaus mit der Erweiterung der theologischen 
Idee durch die humanistische, oder genauer, er 
dehnte ihre Apologie auf die seit der Renaissance 
im Vordergrund der gelehrten Forschung stehenden 
humanistischen Wissenschaften, vor allem der Ge- 
schichte und Jurisprudenz, aus. War schon dieser 
Schritt in dem Ausbau der älteren Geschichts- 
wissenschaft ein bedeutsamer, dann erhielt er seine 
volle, wahrhaft fundamentale Bedeutung erst durch 
die Methode, die Vico in der Abweisung 
alles rationalistischen Denkens für seine 
„neue Wissenschaft“ festlegte, auch hier mehr in- 
tuitiv als systematisch vorgehend. 
Auf der Scheidegrenze der alten christlichen und 
der neuen rationalistischen Weltanschauung stehend, 
hatte Vico bei der Bekämpfung der Methode 
Descartes die Unfruchtbarkeit des Rationalis- 
mus für alles geschichtsphilosophische „metaphysi- 
sche“ Denken erkannt. Eine Philosophie, welche 
als einzige Quelle der Gewißheit nicht die äußere 
Erfahrung, sondern die innere, und diese als pro- 
blematisch hinstellte, welche in der Gewißheit des 
Selbstbewußtseins die erste Wahrheit und in dem 
methodischen Zweifel den Ausgangspunkt des 
philosophischen Denkens hinstellte, mußte je länger 
desto mehr mit jener „Metaphysik“ der Geschichte 
in Widerspruch treten, die Vico ganz und gar auf 
den höheren Erkenntnisquellen der Offenbarung 
aufbaute. Freilich ist Vico in seiner Reaktion 
gegen Descartes dem entgegengesetzten Extrem eines 
die intuitive Ideenerkenntnis überschätzenden Onto- 
logismus nicht entgangen; das tritt gerade in der 
Wiedergeburt zutage, welche seine Leitgedanken 
in der zeitgenössischen italienischen Philosophie — 
von Vincenzo Gioberti bis Benedetto Croce — 
erleben. Aber unberührt von diesen Mängeln 
bleibt Vicos Verdienst um den positiven Auf- 
bau der Geschichtsphilosophie im Sinn 
des christlichen Universalismus und auf den Funda- 
menten einer vergleichenden Bölkerpfy- 
chologie, als deren wichtigste Zweige er ver- 
gleichende Sprach= und Rechtsforschung erkannte. 
Literatur. Zu den schon erwähnten Schrif- 
ten Vicos ist noch hinzuweisen auf die 1696 dem 
Vizekönig von Neapel gehaltene Lobrede, auf die 
Trauerrede über die Mutter des Herzogs von 
Medinaceli (1697), auf den Versuch einer Ehren- 
rettung (Vita di maresciallo Antonio Carafsa, 
1716) des österreichischen im Spanischen Erbsolge- 
krieg wenig rühmlich erwähnten Feldmarschalls 
(gest. 1692). In der 1818 zu Neapel zuerst er- 
schienenen Sammelausgabe der kleineren Schriften 
V.s (Opusculi racolti) in vier Bänden von Carl- 
antonio di Rosa, Marchese de Villa-Rosa, finden 
sich die für die Beurteilung des Lebens u. Arbeitens 
B#s wichtigsten Dokumente neben einer Reihe von 
kleineren Schriften in ilalienischer u. lateinischer 
Sprache. Wir machen aufmerksam zunächst (I. Bd) 
auf V.8 Denkschrift über sein Leben. Die ustze 
Villa-Rosas rühren zum Teil aus M.s hinterlas- 
senen Papieren, teils von Mitteilungen des ältesten 
Sohns her. Den Schriften gegen Descartes (II. Bd), 
einer lilerarischen Polemik nebst den Briefen an
	        
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