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geschichte, wen seine Kritik der Homerlegenden
nicht an Wolfs Arbeiten erinnert? Und haben die
Sozialforschung und vergleichende Sprachforschung
nicht mehr als ein Jahrhundert gebraucht, um da
einzusetzen, wo Vico so tiefsinnige Grundlagen
dazu gelegt? Doch Vico hat noch Größeres voll-
bracht. Er wurde durch seine „neue Wissenschaft“
der erste Meister der Neuzeit in der hohen Kunst,
dem Gedanken Gottes in der Weltgeschichte for-
schend, suchend und findend nachzugehen. Von
allen, die ihm auf dem schwierigen Weg gefolgt
sind, hat keiner einen andern Grund für die „neue
Wissenschaft“ zu legen vermocht; viele sind ab-
geirrt, die besten von ihnen bis auf J. v. Müller
und IJ. v. Görres sind stets auf Vicos Pfad
zurückgekommen. Die wachsende Anerkennung
dieser hohen Bedeutung liegt unseres Erachtens
darin, daß er die drei Grundbedingungen
festgestellt hat, ohne die für das moderne Denken
alle Geschichtsphilosophie stets ein Rätsel
bleiben wird: die Auffassung aller Geschichte als
eines unteilbaren Ganzen, der Verzicht auf alles
rationalisierende Denken für die Auffindung der
Gesetze dieser Einheit und ihr Verständnis, die
Notwendigkeit einer Synthese aller Wissenschaften
zur Begründung dieses Gesetzes aller Geschichte.
Die Auffassung der großen, unteilbaren Ein-
heit der Geschichte als eines organischen, von ein
und demselben Leben durchdrungenen Ganzen hatte
Vico nicht aus sich; sie bildet einen wesentlichen
Teil der christlichen, unmittelbar in der Offen-
barung wurzelnden Weltanschauung. Welt-
geschichte ist bis auf Idee und Begriff die
Schöpfung des katholischen Christen-
tums, herausgewachsen aus dem Universalismus
der Offenbarungstatsachen. Was Paulus auf dem
Areshügel zu Athen (Apg. 17, 22 ff) über das
Wesen, den Ursprung und das Ziel des Geschlechts
predigte als von göttlicher Art, aus einem Blut
stammend, eine große Familie bildend unter dem
Gesetz eines von den Toten auferstandenen Mannes,
welcher der Vielheit der Völker alle Zeit und allen
Raum, „geordnete Zeitpunkte und bestimmte
Grenzbestimmungen ihres Wohnens“ belassen mit
der einen gemeinsamen Zweckbestimmung, „daß
sie Gott suchten, ob sie ihn wohl ertasteten und
fänden“, — das war für Vico der Grund= und
Aufriß zum Hochbau seines Lebenswerks, der
„Metaphysik“ der Geschichte. Bei der Erforschung
der politischen, rechtlichen, militärischen, sozialen
und moralischen Veränderungen der antiken, zumal
römischen Staatswelt erkannte er das religiöse
Prinzip als das eine, gemeinsame, unveränderliche
Lebensgesetz aller geschichtlichen Entwicklung, die
wunderbare Vor= und Zubereitung der höchsten
Entfaltung dieses Gesetzes in der christlichen Welt
und ihrer Zivilisation. War Vico in dieser Hin-
sicht ein Schüler der großen Geschichtsauffassung
eines Klemens von Alexandrien, eines Irenäus
und Augustinus bis herab zu Bossuet, so ging er
als einer der ersten und tiessinnigsten über sie
Vico.
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hinaus mit der Erweiterung der theologischen
Idee durch die humanistische, oder genauer, er
dehnte ihre Apologie auf die seit der Renaissance
im Vordergrund der gelehrten Forschung stehenden
humanistischen Wissenschaften, vor allem der Ge-
schichte und Jurisprudenz, aus. War schon dieser
Schritt in dem Ausbau der älteren Geschichts-
wissenschaft ein bedeutsamer, dann erhielt er seine
volle, wahrhaft fundamentale Bedeutung erst durch
die Methode, die Vico in der Abweisung
alles rationalistischen Denkens für seine
„neue Wissenschaft“ festlegte, auch hier mehr in-
tuitiv als systematisch vorgehend.
Auf der Scheidegrenze der alten christlichen und
der neuen rationalistischen Weltanschauung stehend,
hatte Vico bei der Bekämpfung der Methode
Descartes die Unfruchtbarkeit des Rationalis-
mus für alles geschichtsphilosophische „metaphysi-
sche“ Denken erkannt. Eine Philosophie, welche
als einzige Quelle der Gewißheit nicht die äußere
Erfahrung, sondern die innere, und diese als pro-
blematisch hinstellte, welche in der Gewißheit des
Selbstbewußtseins die erste Wahrheit und in dem
methodischen Zweifel den Ausgangspunkt des
philosophischen Denkens hinstellte, mußte je länger
desto mehr mit jener „Metaphysik“ der Geschichte
in Widerspruch treten, die Vico ganz und gar auf
den höheren Erkenntnisquellen der Offenbarung
aufbaute. Freilich ist Vico in seiner Reaktion
gegen Descartes dem entgegengesetzten Extrem eines
die intuitive Ideenerkenntnis überschätzenden Onto-
logismus nicht entgangen; das tritt gerade in der
Wiedergeburt zutage, welche seine Leitgedanken
in der zeitgenössischen italienischen Philosophie —
von Vincenzo Gioberti bis Benedetto Croce —
erleben. Aber unberührt von diesen Mängeln
bleibt Vicos Verdienst um den positiven Auf-
bau der Geschichtsphilosophie im Sinn
des christlichen Universalismus und auf den Funda-
menten einer vergleichenden Bölkerpfy-
chologie, als deren wichtigste Zweige er ver-
gleichende Sprach= und Rechtsforschung erkannte.
Literatur. Zu den schon erwähnten Schrif-
ten Vicos ist noch hinzuweisen auf die 1696 dem
Vizekönig von Neapel gehaltene Lobrede, auf die
Trauerrede über die Mutter des Herzogs von
Medinaceli (1697), auf den Versuch einer Ehren-
rettung (Vita di maresciallo Antonio Carafsa,
1716) des österreichischen im Spanischen Erbsolge-
krieg wenig rühmlich erwähnten Feldmarschalls
(gest. 1692). In der 1818 zu Neapel zuerst er-
schienenen Sammelausgabe der kleineren Schriften
V.s (Opusculi racolti) in vier Bänden von Carl-
antonio di Rosa, Marchese de Villa-Rosa, finden
sich die für die Beurteilung des Lebens u. Arbeitens
B#s wichtigsten Dokumente neben einer Reihe von
kleineren Schriften in ilalienischer u. lateinischer
Sprache. Wir machen aufmerksam zunächst (I. Bd)
auf V.8 Denkschrift über sein Leben. Die ustze
Villa-Rosas rühren zum Teil aus M.s hinterlas-
senen Papieren, teils von Mitteilungen des ältesten
Sohns her. Den Schriften gegen Descartes (II. Bd),
einer lilerarischen Polemik nebst den Briefen an