Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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zwischen Bauersmann, Fabrilarbeiter und Pfarrer 
*1898); Huppert, Offentliche Lesehallen 1899). 
Der Aufklärung der Arbeiterwelt über soziale und 
wirtschaftliche Zeitfragen dienen die „Sozialen 
Unterrichtskurse für Arbeiter“ (1899)). 
Es ist ein durchaus christlicher Gedanke, der 
auch in der Geschichte der Kirche stets hervortrat, 
Bildung und Kultur dahin zu tragen, wo bisher 
Unwissenheit und Unkultur gehaust hatten. Die 
Volksbildung ist geradezu eine Schöpfung des 
Christentums; der Antike und den Weisen des 
Altertums war sie fremd. Die Kirche hat sich stets 
als ein Hort wahrer Bildung erwiesen. Sie darf, 
um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, als 
eine „Volkshochschule“ der Geistesbildung im edel- 
sten Sinn bezeichnet werden, weil sie in Predigt 
und Liturgie, in bildender Kunst und Musik selbst 
dem gewöhnlichen Volk ein reiches Kapital der 
wertvollsten intellektuellen und ästhetischen Bil- 
dungselemente vermittelt. Wenn heute die „Ge- 
sellschaft für ethische Kultur“ oder die Vereini- 
gungen für freie Volksbühnen dem Volk Anteil 
an den Gütern des Wissens und der Kunst ver- 
schaffen wollen, so müssen diese Bestrebungen erst 
noch vielfach sich als volkstümlich erweisen und 
den Weg zum Herzen des Volks finden, während 
die Kirche sich bereits tatsächlich als Lehrerin und 
Exzieherin im größten Maßstab erwiesen hat. Und 
die Forschungen der Archäologie beweisen es täg- 
lich mehr, daß sie selbst damals, wo sie um ihre 
Existenz kämpfen und vor ihren heidnischen Ver- 
folgern zur Feier ihrer Geheimnisse in die Grüfte 
der Katakomben flüchten mußte, die Kunst zur 
Bildung und Veredlung des Volks in ihren Dienst 
nahm. Die Kunst der Kirche war von Anfang 
an eine volkstümliche, aus dem gläubigen Empfin- 
den des Volks heraus und für das Volk ge- 
schaffen. Die Kirche hat zu jeder Zeit gesorgt für 
Kunstmuseen, in denen sich auch der gemeine 
Mann heimisch fühlte, was bekanntlich von den 
heutigen Museen und Galerien keineswegs be- 
hauptet werden kann; sie hat ein geistliches 
Theater der religiösen Mysterien eröffnet und 
dem Volk Konzertsäle erschlossen, und nur die 
edelsten, weihevollsten Melodien hält sie hier für 
gut genug. 
Aber die Kirche nimmt sich auch der weltlichen 
Bildung aus wahrer Sympathie an, und nichts 
ist eine gröbere historische Lüge, als daß sie an 
der Volksverdummung arbeite. Selbst einsichtige 
Protestanten erkennen es an: Was die Mönche 
durch Jahrhunderte geleistet haben in der Er- 
ziehung der Völker zur Arbeit, „derjenigen Völ- 
ker, die die Träger der modernen Kultur werden 
sollten, das ist mit leuchtenden Buchstaben in die 
Geschichte eingetragen“ (v. Nathusius, Die Mit- 
arbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage 
1718971 358). Die Kirche hat jahrhundertelang 
Schulen errichtet, ehe der Staat nur daran denken 
konnte. Sie sieht auch in der Gegenwart keines- 
wegs scheelen Auges auf die immer weitere Kreise 
Volksbildung. 
  
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ziehende Volksbildung. In Zeiten, wo die Werke 
der klassischen Kunst und Literatur den Beute- 
zügen der Barbaren preisgegeben waren, hat sie 
dieselben in ihrem Schoß gehegt und kommenden 
Geschlechtern übermittelt. Daß den Päpsten der 
Hauptteil an der Gründung der mittelalterlichen 
Universitäten zufällt, ist eine erwiesene Tatsache 
(Denifle, Die Entstehung der Universitäten des 
Mittelalters bis 1400 (1885) 792 ffö. 
III. Die Bolkisbildungsbestrehungen der 
Gegenwart. In der Gegenwart gibt sich ein 
gesteigertes Interesse der besitzenden und gebildeten 
Klassen für Hebung des Bildungsniveaus der 
unteren, wenig gebildeten Volksschichten kund, 
und anderseits geht durch die letzteren eine starke 
Bewegung, in der sich das Bedürfnis nach Steige- 
rung der Bildung ausspricht. Diese Bewegung 
steht im Zusammenhang mit der allgemeinen so- 
zialen Bewegung unserer Tage und kann nur in 
diesem Zusammenhang verstanden werden. Ihr 
verdanken die modernen Volksbildungsvereine ihr 
Entstehen. Unter diesem Namen „faßt man solche 
Vereine zusammen, welche sich die Aufgabe gestellt 
haben, für die weitere Ausbildung der großen 
Masse der Bevölkerung, und zwar in erster Linie 
der unteren, unbemittelten Schichten, zu wirken. 
Sie wollen also ergänzend neben der Tätigkeit 
von Staat und Gemeinde eintreten. In den Län- 
dern, in welchen Schulzwang besteht und auch für 
das Fortbildungsschulwesen fakultativ oder obli- 
gatorisch hinreichend Sorge getragen ist, entfällt 
die schulpflichtige Jugend von selbst aus dem 
Kreis der Wirksamkeit der Bildungsvereine. Ihre 
gemeinnützige und freiwillige Fürsorgetätigkeit kon- 
zentriert sich dann auf die reifere Jugend und 
namentlich auf die Erwachsenen" (Biermer, Volks- 
bildungsvereine 524). « 
Die Ursache dieses auf Bildung gerichteten Be- 
dürfnisses der unteren Klassen liegt in der unge- 
heuern Verbreitung der allgemeinen Kulturbasis 
überhaupt, in den Fortschritten auf allen Gebieten 
des Verkehrswesens, des Handels, der Industrie 
und Technik. „Dazu hat schon", meint Sombart 
(Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrh. 
[1903) 473 ff), „die beträchtliche Vermehrung 
der Kulturspender das Ihrige beigetragen, ich 
meine die Vermehrung derjenigen Leute, die sich 
für Gelehrte, Künstler, Dichter, Musiker halten 
und (weil sie nicht eine bürgerliche Nahrung zu 
ergreifen brauchen) der Welt die Erzeugnisse ihres 
Geistes zum Besten geben.“ Mit gesteigerter Lite- 
ratur-- und Kunstproduktion hat die Verbilligung 
ihrer Erzeugnisse gleichen Schritt gehalten. Mit 
der Verbreitung der Wissenschaft wetteifert die 
Kunst, die sich an große Massen wenden will. 
„Heute erst ist das Theater der rechte Literatur- 
omnibus geworden. Das gilt aber gewiß in noch 
viel höherem Grad für das Konzert, den Musik- 
omnibus, und das öffentliche Museum, den Kunst- 
omnibus. Heute herrscht an allen Orten die 
Konzertpest, könnte man sagen, wenn damit nicht 
 
	        
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