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ein abfälliges Urteil verbunden wäre. Konzerte
früh, mittags und abends, schlechte, mittlere und
gute, leichte und schwere, drinnen und draußen.“
Da das Kulturleben sich so gewaltig ausgeweitet
hat, muß auch die Volksbildung eine Erweiterung
anstreben, um in harmonischer Verbindung mit
dem Ganzen zu bleiben.
Sicher ist, daß der soziale Gegensatz nicht aus-
schließlich ein Gegensatz des Besitzes ist; ja Schmol-
ler hat behauptet, der letzte Grund aller sozialen
Gefahr liege nicht in der Dissonanz der Besitz= son-
dern der Bildungsverhältnisse. Läßt sich der Gegen-
satz der Bildung auch vielfach auf den des Besitzes
zurückführen, so ist doch auch jener wieder zu einer
Quelle des letzteren geworden. Und weil Wissen eine
Uüberlegenheit über den Ungebildeten verleiht, will
sich die große Menge mehr ans Licht der Bildung
durchdringen. Die kolossale Arbeitsteilung auf
industriellem Gebiet verlangt gebieterisch eine in-
tensivere Geltendmachung der geistigen Seite des
Menschen durch erhöhte Teilnahme an den aus
Vergangenheit und Gegenwart aufgespeicherten
Schätzen der Bildung, wo nicht Verödung, stumpfe
Resignation die Folge sein soll. Aber die neuzeit-
liche Kultur selbst erfordert dies. Eine Kultur,
die nur für den geringsten Teil der Nation Licht
und Freude bringt, während der größere Teil, der
sich mit Vorliebe als die „Enterbten“ betrachtet,
grollend beiseite steht, ruht auf viel zu unsichern
Grundlagen, um nicht auch bei den vom Glück
Begünstigten das Gefühl des Unbehagens hervor-
zurufen. Aus dieser Erkenntnis wie auch aus
echter Philanthropie zahlreicher Glieder der höheren
Klassen begreift sich der Eifer, mit dem man den
arbeitenden Schichten eine erhöhte Teilnahme an
der Welt des Wissens und der Kunst zu ermög-
lichen sucht.
Auf mannigfachen Wegen sucht man dieses Ziel
zu erreichen. Die Bildungsvereine suchen teils
durch Agitation Stimmung für ihre Sache zu
machen, die gebildeten und besitzenden Kreise
zu tatkräftiger Unterstützung heranzuziehen, bei
Staat und Kommunen die notwendige Förderung
ihrer Aufgaben zu erlangen, teils versuchen sie
selbst dem Volk die vielfach mangelnde Gelegen-
heit zu weilerer Ausbildung zu bieten. Durch
Gründung von Volksbibliotheken und Lesehallen,
durch populärwissenschaftliche Vorträge, durch sach-
verständige Führung in Kunstgalerien und Mu-
seen, durch Einrichtung von Volksbildungsabenden,
durch Errichtung von „Volksbühnen“, Veranstal-
tung billiger Schauspiele und Konzerte für die
Massen, durch Fach= und Fortbildungsschulen aller
Art sucht man Sinn und Verständnis des Volks
für die geistigen Güter zu fördern. Unser ganzes
gewerbliches und politisches Leben drängt von selbst
dazu, dem Volk ein größeres Maß von Bildung
zuzuführen. Die bloße Volksschulbildung genügt
den heutigen Anforderungen des Lebens längst
nicht mehr (ogl. Pache, Fortbildungs- und Fach-
schulen 189). Die Volksbildungsvereine suchen
Volksbildung.
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nicht bloß durch besondere Zeitschriften, Flug-
blätter, öffentliche Vorträge, Versammlungen und
Petitionen an Behörden und Parlamente auf die
Lücken in dem allgemeinen Bildungsniveau des
Volks hinzuweisen (Biermer S. 525), sondern auch
durch gemeinnütziges Wirken, soweit die freilich
oft nur zu beschränkten finanziellen Mittel reichen,
Bildung bei den unteren Klassen zu verbreiten.
Derartigen philanthropischen Bestrebungen, die
doch in der Anerkennung der vom Christentum zu
Ehren gebrachten Menschenwürde wurzeln, kann
man nur sympathisch gegenüberstehen. Der Aus-
schluß des „Volks“ von den geistigen Gütern der
Kultur und die Heranzüchtung einer exklusiven
Geistesaristokratie ist heidnisch. Freilich gibt es
auch heute noch „Gruppen von Gebildeten, welche
die Bildung als einen ganz exklusiven Besitz an-
sehen, als Privileg eines oft recht frivolen Lebens-
genusses, einer oft wahren, aber auch dünkelhaften,
anempfundenen vornehmen Gesinnung. Dazu tritt
törichte Furcht vor Machtvermehrung einer Klasse“
(Mannheimer S. 15).
Das Volk besitzt jedoch ein Recht, an den Kultur-
errungenschaften, die ja zum Teil erst durch seine
Arbeit ermöglicht sind, einen Anteil zu haben.
Vom Standpunkt der Sittlichkeit wie der Politik
ist ein solches Verlangen nur zu billigen. Ge-
sittung und Gesundheit eines Volks werden ge-
winnen, wenn die unteren Klassen statt des rein
materiellen Sinnengenusses, der das Einerlei der
Lohnarbeit bisweilen durchbricht, auch für edlere
Genüsse sich empfänglich zeigen, und jedes auf
Erweckung höherer Bedürfnisse gerichtete Bestreben
darf von vornherein auf den Dank einer gesunden
Sozialpolitik rechnen. Unsere Bildung ist bisher
dem Volk nur zu fremd geblieben. Die Brücke
zwischen Kunst und Volk scheint vollständig ab-
gebrochen. „Nicht bloß die Masse des Volks ist
bei der modernen Kunstpflege unberücksichtigt ge-
blieben, in den letzten Jahrzehnten werden auch
die mittleren Schichten des Besitzes, die von
mäßigem Gehalt lebenden Beamten, die kleinen
Kaufleute und Gewerbetreibenden, immer mehr
von dem beständig teurer werdenden Kunstgenuß
ausgeschlossen, den sich heute mehr bloß sehr
wohlhabende Kreise unbefangen gestatten können,
die Kunst ist mit einem Wort ein Privilegium
der Reichen“ (Reich, Die bürgerliche Kunst 166).
Es fehlt freilich nicht an Stimmen, welche den
unteren Schichten jedes Verständnis für jeden
geistigen Genuß absprechen wollen; für die bar-
barische Roheit derselben sei Arbeit und dann und
wann ein derber Genuß das einzig Berechtigte.
Aber ganz abgesehen davon, daß dies allen Er-
fahrungen widerspricht, fragt es sich, ob nicht die
Hauptschuld an einer beklagenswerten Entfrem-
dung diejenigen trifft, die vor allem dazu berufen
wären, in jenen Tiefen der Gesellschaft das geistige
Niveau zu heben. „Es ist längst zahlenmäßig
ausgerechnet, daß Staat und Gemeinde ungleich
größere Aufwendungen für Bildungszwecke der be.