Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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ein abfälliges Urteil verbunden wäre. Konzerte 
früh, mittags und abends, schlechte, mittlere und 
gute, leichte und schwere, drinnen und draußen.“ 
Da das Kulturleben sich so gewaltig ausgeweitet 
hat, muß auch die Volksbildung eine Erweiterung 
anstreben, um in harmonischer Verbindung mit 
dem Ganzen zu bleiben. 
Sicher ist, daß der soziale Gegensatz nicht aus- 
schließlich ein Gegensatz des Besitzes ist; ja Schmol- 
ler hat behauptet, der letzte Grund aller sozialen 
Gefahr liege nicht in der Dissonanz der Besitz= son- 
dern der Bildungsverhältnisse. Läßt sich der Gegen- 
satz der Bildung auch vielfach auf den des Besitzes 
zurückführen, so ist doch auch jener wieder zu einer 
Quelle des letzteren geworden. Und weil Wissen eine 
Uüberlegenheit über den Ungebildeten verleiht, will 
sich die große Menge mehr ans Licht der Bildung 
durchdringen. Die kolossale Arbeitsteilung auf 
industriellem Gebiet verlangt gebieterisch eine in- 
tensivere Geltendmachung der geistigen Seite des 
Menschen durch erhöhte Teilnahme an den aus 
Vergangenheit und Gegenwart aufgespeicherten 
Schätzen der Bildung, wo nicht Verödung, stumpfe 
Resignation die Folge sein soll. Aber die neuzeit- 
liche Kultur selbst erfordert dies. Eine Kultur, 
die nur für den geringsten Teil der Nation Licht 
und Freude bringt, während der größere Teil, der 
sich mit Vorliebe als die „Enterbten“ betrachtet, 
grollend beiseite steht, ruht auf viel zu unsichern 
Grundlagen, um nicht auch bei den vom Glück 
Begünstigten das Gefühl des Unbehagens hervor- 
zurufen. Aus dieser Erkenntnis wie auch aus 
echter Philanthropie zahlreicher Glieder der höheren 
Klassen begreift sich der Eifer, mit dem man den 
arbeitenden Schichten eine erhöhte Teilnahme an 
der Welt des Wissens und der Kunst zu ermög- 
lichen sucht. 
Auf mannigfachen Wegen sucht man dieses Ziel 
zu erreichen. Die Bildungsvereine suchen teils 
durch Agitation Stimmung für ihre Sache zu 
machen, die gebildeten und besitzenden Kreise 
zu tatkräftiger Unterstützung heranzuziehen, bei 
Staat und Kommunen die notwendige Förderung 
ihrer Aufgaben zu erlangen, teils versuchen sie 
selbst dem Volk die vielfach mangelnde Gelegen- 
heit zu weilerer Ausbildung zu bieten. Durch 
Gründung von Volksbibliotheken und Lesehallen, 
durch populärwissenschaftliche Vorträge, durch sach- 
verständige Führung in Kunstgalerien und Mu- 
seen, durch Einrichtung von Volksbildungsabenden, 
durch Errichtung von „Volksbühnen“, Veranstal- 
tung billiger Schauspiele und Konzerte für die 
Massen, durch Fach= und Fortbildungsschulen aller 
Art sucht man Sinn und Verständnis des Volks 
für die geistigen Güter zu fördern. Unser ganzes 
gewerbliches und politisches Leben drängt von selbst 
dazu, dem Volk ein größeres Maß von Bildung 
zuzuführen. Die bloße Volksschulbildung genügt 
den heutigen Anforderungen des Lebens längst 
nicht mehr (ogl. Pache, Fortbildungs- und Fach- 
schulen 189). Die Volksbildungsvereine suchen 
Volksbildung. 
  
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nicht bloß durch besondere Zeitschriften, Flug- 
blätter, öffentliche Vorträge, Versammlungen und 
Petitionen an Behörden und Parlamente auf die 
Lücken in dem allgemeinen Bildungsniveau des 
Volks hinzuweisen (Biermer S. 525), sondern auch 
durch gemeinnütziges Wirken, soweit die freilich 
oft nur zu beschränkten finanziellen Mittel reichen, 
Bildung bei den unteren Klassen zu verbreiten. 
Derartigen philanthropischen Bestrebungen, die 
doch in der Anerkennung der vom Christentum zu 
Ehren gebrachten Menschenwürde wurzeln, kann 
man nur sympathisch gegenüberstehen. Der Aus- 
schluß des „Volks“ von den geistigen Gütern der 
Kultur und die Heranzüchtung einer exklusiven 
Geistesaristokratie ist heidnisch. Freilich gibt es 
auch heute noch „Gruppen von Gebildeten, welche 
die Bildung als einen ganz exklusiven Besitz an- 
sehen, als Privileg eines oft recht frivolen Lebens- 
genusses, einer oft wahren, aber auch dünkelhaften, 
anempfundenen vornehmen Gesinnung. Dazu tritt 
törichte Furcht vor Machtvermehrung einer Klasse“ 
(Mannheimer S. 15). 
Das Volk besitzt jedoch ein Recht, an den Kultur- 
errungenschaften, die ja zum Teil erst durch seine 
Arbeit ermöglicht sind, einen Anteil zu haben. 
Vom Standpunkt der Sittlichkeit wie der Politik 
ist ein solches Verlangen nur zu billigen. Ge- 
sittung und Gesundheit eines Volks werden ge- 
winnen, wenn die unteren Klassen statt des rein 
materiellen Sinnengenusses, der das Einerlei der 
Lohnarbeit bisweilen durchbricht, auch für edlere 
Genüsse sich empfänglich zeigen, und jedes auf 
Erweckung höherer Bedürfnisse gerichtete Bestreben 
darf von vornherein auf den Dank einer gesunden 
Sozialpolitik rechnen. Unsere Bildung ist bisher 
dem Volk nur zu fremd geblieben. Die Brücke 
zwischen Kunst und Volk scheint vollständig ab- 
gebrochen. „Nicht bloß die Masse des Volks ist 
bei der modernen Kunstpflege unberücksichtigt ge- 
blieben, in den letzten Jahrzehnten werden auch 
die mittleren Schichten des Besitzes, die von 
mäßigem Gehalt lebenden Beamten, die kleinen 
Kaufleute und Gewerbetreibenden, immer mehr 
von dem beständig teurer werdenden Kunstgenuß 
ausgeschlossen, den sich heute mehr bloß sehr 
wohlhabende Kreise unbefangen gestatten können, 
die Kunst ist mit einem Wort ein Privilegium 
der Reichen“ (Reich, Die bürgerliche Kunst 166). 
Es fehlt freilich nicht an Stimmen, welche den 
unteren Schichten jedes Verständnis für jeden 
geistigen Genuß absprechen wollen; für die bar- 
barische Roheit derselben sei Arbeit und dann und 
wann ein derber Genuß das einzig Berechtigte. 
Aber ganz abgesehen davon, daß dies allen Er- 
fahrungen widerspricht, fragt es sich, ob nicht die 
Hauptschuld an einer beklagenswerten Entfrem- 
dung diejenigen trifft, die vor allem dazu berufen 
wären, in jenen Tiefen der Gesellschaft das geistige 
Niveau zu heben. „Es ist längst zahlenmäßig 
ausgerechnet, daß Staat und Gemeinde ungleich 
größere Aufwendungen für Bildungszwecke der be.
	        
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