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Kräfte zu gewinnen, und weil die wissenschaftlichen
Kreise eine Popularisierung der Forschungen lange
Zeit unter der Würde der Wissenschaft hielten.
Diese übertriebene Zurückhaltung der Gelehrten-
welt ist freilich jetzt Uüberwunden. Vielfach treten
die Hochschulprofessoren selbst als Redner und
Lehrer in den Veranstaltungen der Volksbildungs-
vereine auf, ja es ist ein eigner Zweig der Volks-
bildung gerade auf dem Boden der Universitäten
erwachsen (Volkshochschulbewegung).
Wird gesagt, das Volk werde durch solche Be-
strebungen verwöhnt und mit neuen Bedürfnissen
bekannt gemacht, so ist das Zerstreuungs= und
Unterhaltungsbedürfnis eine Tatsache, mit der
gerechnet werden muß. Es handelt sich nur darum,
daß die unedle, oft rohe Art, in der das Ab-
wechslungsbedürfnis vielfach befriedigt wird, mit
einem andern, geistigen Genuß vertauscht werde.
Will man, daß die gesetzlich eingeführte Sonn-
tagsruhe segensreich wirke, so muß dafür gesorgt
werden, daß sie nicht „zu einem wüsten Kneipen-
trubel und zu andern, noch schlimmeren Orgien
ausartet“ (Bäcker, Die Volksunterhaltung 9).
Am bhesten wäre die Gefahr der Halbbildung
imstande, den Gedanken der Volksbildung in
Mißkredit zu bringen. Daß dieselbe bis zu einem
gewissen Grad vorliegt, ist nicht zu leugnen. Sie
ist da am größten, wo die Durchführung der
Volksbildung nicht systematisch und zweckbewußt
geschieht, sondern wo die Vorträge aus allen
möglichen Gebieten des Wissens kunterbunt an-
einandergereiht werden, so daß dem bildungs-
bedürftigen Publikum nicht ein Ganzes, sondern
lose Bruchstücke des Wissens vermittelt werden.
Dieser Gefahr wird einmal dadurch begegnet, daß
an die Stelle der einzelnen Vorträge, die zwar
alles mögliche, aber nichts gründlich behandeln,
Vortragszyklen und Vortragskurse treten, die einen
Gegenstand allseitig und einigermaßen erschöpfend
behandeln, sodann dadurch, daß die Vorträge durch
Literaturhinweise und Selbststudium der Hörer
ergänzt werden. Es wird dabei viel darauf an-
kommen, daß die Persönlichkeit des Redners zur
Weiterarbeit anrege. Neben solchen längeren Kur-
sen behalten freilich auch die Einzelvorträge ihren
Wert. Sie werden mehr als eine bloße Anregung
bieten und wirklich belehrend wirken, wenn das
Thema nur eng genug begrenzt wird (Schriften der
Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinri
Nr 18, S. 117).
Man darf aber auch die Gefahr der Halb-
bildung nicht übertreiben. Allerdings werden alle
Volksbildungsbestrebungen sie nicht gänzlich ban-
nen. Man hat mit Recht gesagt, die Halbbildung
sei besser als die Unbildung (Biermer S. 528),
nämlich dann, wenn sie sich ihrer Unvollstän-
digkeit bewußt bleibt und nicht mit dem An-
spruch auftritt, alles verstehen zu wollen, und
wenn der angeeignete Bildungsstoff, sei er auch
noch so gering, wirklich verstanden und geistiges
Eigentum geworden ist. In gewisser Beziehung
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Lletceint
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Volksbildung.
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bringen wir alle es bei der gewaltigen Spezialifie-
rung des wissenschaftlichen Betriebs nur zu einer
Teil= oder Halbbildung. Und wie Schmoller mit
Recht betont (Schriften der Zentralstelle a. a. O.
57), wir werden nie zu befriedigenden sozialen
Zuständen gelangen, solange der ungeheure Riß
der Gesittung und Bildung, der zwischen den be-
sitzenden und den arbeitenden Klassen gähnt, nicht
überbrückt wird. Auch darf man die Auffassungs-
fähigkeit des Volks nicht, wie es oft geschieht, zu
gering einschätzen. „Skeptiker, die sich wenigstens
zu einem Versuch herbeigelassen haben, schwierige
Materien vor einem großen, der akademischen
Bildung entbehrenden Kreis trotzdem in streng
wissenschaftlicher Form zu behandeln, sind bei den
an die Vorträge sich anschließenden freien Diskus-
sionen, wie man oft gehört hat, nicht wenig über-
rascht gewesen, welches Verständnis ihnen entgegen-
gebracht wurde“ (Biermer S. 528). 6
IV. Als Mittel der Vollisbildung kommen
in Betracht die Abhaltung von Vorträgen und
Unterrichtskursen, die Massenverbreitung guter
Schriften, Volksbibliotheken und Lesehallen sowie
die mannigfachen Arten der Volksunterhaltung.
1. Vorträge, Unterrichtskurse. Das
gesprochene Wort kann seinen im Verhältnis zum
geschriebenen gesteigerten Einfluß nur dann gel-
tend machen, wenn auf die Auswahl der Vortrags-
themata und der Redner alle Sorgfalt verwendet
wird. Mannigfaltig sind die Gebiete, denen die
Gegenstände der Belehrung zu entnehmen sind.
Besonders erfreuen sich Vorträge über natur-
wissenschaftliche und technische Probleme, über
Literatur= und allgemeine Geschichte regen Be-
suchs. Der Erfolg ist jedoch vor allem dadurch
bedingt, daß jeder Schein vermieden werde, als
sollten die Zuhörer für irgend eine politische Partei
gewonnen oder überhaupt geistig bevormundet
werden. Ferner muß jeder Ausfall auf eine reli-
giöse Überzeugung vermieden werden. Es gilt
darum als zweckmäßig, religiöse Fragen vollstän-
dig auszuscheiden. Diese zu erörtern, bleibt kon-
fessionellen Vereinen vorbehalten, wie den Lehr-
lings-, Gesellen-, Arbeiter-, Beamtenvereinen usw.
Es gibt auch Gegenstände in Hülle und Fülle,
die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit
den religiösen und kirchlichen Fragen stehen. Auf-
gabe der zur Pflege des religiösen Lebens be-
rufenen Organe und Vereine bleibt es, die durch
die heutigen Verhältnisse bedingte Lücke durch
eine gesteigerte Bildung des Volks in religiösen
Dingen auszufüllen und das Gleichgewicht zwi-
schen profaner und religiöser Bildung wiederher-
zustellen.
Leider gibt es aber auch Bestrebungen auf dem
Gebiet der Volksbildung, die sich in bewußten
und gewollten Gegensatz zur Religion und ins-
besondere zum katholischen Christentum stellen und
von der ausdrücklichen oder stillschweigenden Vor-
aussetzung ausgehen, die christliche Volksbildung
sei nicht die wahre, sie müsse durch eine nichtchrist-