Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Kräfte zu gewinnen, und weil die wissenschaftlichen 
Kreise eine Popularisierung der Forschungen lange 
Zeit unter der Würde der Wissenschaft hielten. 
Diese übertriebene Zurückhaltung der Gelehrten- 
welt ist freilich jetzt Uüberwunden. Vielfach treten 
die Hochschulprofessoren selbst als Redner und 
Lehrer in den Veranstaltungen der Volksbildungs- 
vereine auf, ja es ist ein eigner Zweig der Volks- 
bildung gerade auf dem Boden der Universitäten 
erwachsen (Volkshochschulbewegung). 
Wird gesagt, das Volk werde durch solche Be- 
strebungen verwöhnt und mit neuen Bedürfnissen 
bekannt gemacht, so ist das Zerstreuungs= und 
Unterhaltungsbedürfnis eine Tatsache, mit der 
gerechnet werden muß. Es handelt sich nur darum, 
daß die unedle, oft rohe Art, in der das Ab- 
wechslungsbedürfnis vielfach befriedigt wird, mit 
einem andern, geistigen Genuß vertauscht werde. 
Will man, daß die gesetzlich eingeführte Sonn- 
tagsruhe segensreich wirke, so muß dafür gesorgt 
werden, daß sie nicht „zu einem wüsten Kneipen- 
trubel und zu andern, noch schlimmeren Orgien 
ausartet“ (Bäcker, Die Volksunterhaltung 9). 
Am bhesten wäre die Gefahr der Halbbildung 
imstande, den Gedanken der Volksbildung in 
Mißkredit zu bringen. Daß dieselbe bis zu einem 
gewissen Grad vorliegt, ist nicht zu leugnen. Sie 
ist da am größten, wo die Durchführung der 
Volksbildung nicht systematisch und zweckbewußt 
geschieht, sondern wo die Vorträge aus allen 
möglichen Gebieten des Wissens kunterbunt an- 
einandergereiht werden, so daß dem bildungs- 
bedürftigen Publikum nicht ein Ganzes, sondern 
lose Bruchstücke des Wissens vermittelt werden. 
Dieser Gefahr wird einmal dadurch begegnet, daß 
an die Stelle der einzelnen Vorträge, die zwar 
alles mögliche, aber nichts gründlich behandeln, 
Vortragszyklen und Vortragskurse treten, die einen 
Gegenstand allseitig und einigermaßen erschöpfend 
behandeln, sodann dadurch, daß die Vorträge durch 
Literaturhinweise und Selbststudium der Hörer 
ergänzt werden. Es wird dabei viel darauf an- 
kommen, daß die Persönlichkeit des Redners zur 
Weiterarbeit anrege. Neben solchen längeren Kur- 
sen behalten freilich auch die Einzelvorträge ihren 
Wert. Sie werden mehr als eine bloße Anregung 
bieten und wirklich belehrend wirken, wenn das 
Thema nur eng genug begrenzt wird (Schriften der 
Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinri 
Nr 18, S. 117). 
Man darf aber auch die Gefahr der Halb- 
bildung nicht übertreiben. Allerdings werden alle 
Volksbildungsbestrebungen sie nicht gänzlich ban- 
nen. Man hat mit Recht gesagt, die Halbbildung 
sei besser als die Unbildung (Biermer S. 528), 
nämlich dann, wenn sie sich ihrer Unvollstän- 
digkeit bewußt bleibt und nicht mit dem An- 
spruch auftritt, alles verstehen zu wollen, und 
wenn der angeeignete Bildungsstoff, sei er auch 
noch so gering, wirklich verstanden und geistiges 
Eigentum geworden ist. In gewisser Beziehung 
  
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Volksbildung. 
  
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bringen wir alle es bei der gewaltigen Spezialifie- 
rung des wissenschaftlichen Betriebs nur zu einer 
Teil= oder Halbbildung. Und wie Schmoller mit 
Recht betont (Schriften der Zentralstelle a. a. O. 
57), wir werden nie zu befriedigenden sozialen 
Zuständen gelangen, solange der ungeheure Riß 
der Gesittung und Bildung, der zwischen den be- 
sitzenden und den arbeitenden Klassen gähnt, nicht 
überbrückt wird. Auch darf man die Auffassungs- 
fähigkeit des Volks nicht, wie es oft geschieht, zu 
gering einschätzen. „Skeptiker, die sich wenigstens 
zu einem Versuch herbeigelassen haben, schwierige 
Materien vor einem großen, der akademischen 
Bildung entbehrenden Kreis trotzdem in streng 
wissenschaftlicher Form zu behandeln, sind bei den 
an die Vorträge sich anschließenden freien Diskus- 
sionen, wie man oft gehört hat, nicht wenig über- 
rascht gewesen, welches Verständnis ihnen entgegen- 
gebracht wurde“ (Biermer S. 528). 6 
IV. Als Mittel der Vollisbildung kommen 
in Betracht die Abhaltung von Vorträgen und 
Unterrichtskursen, die Massenverbreitung guter 
Schriften, Volksbibliotheken und Lesehallen sowie 
die mannigfachen Arten der Volksunterhaltung. 
1. Vorträge, Unterrichtskurse. Das 
gesprochene Wort kann seinen im Verhältnis zum 
geschriebenen gesteigerten Einfluß nur dann gel- 
tend machen, wenn auf die Auswahl der Vortrags- 
themata und der Redner alle Sorgfalt verwendet 
wird. Mannigfaltig sind die Gebiete, denen die 
Gegenstände der Belehrung zu entnehmen sind. 
Besonders erfreuen sich Vorträge über natur- 
wissenschaftliche und technische Probleme, über 
Literatur= und allgemeine Geschichte regen Be- 
suchs. Der Erfolg ist jedoch vor allem dadurch 
bedingt, daß jeder Schein vermieden werde, als 
sollten die Zuhörer für irgend eine politische Partei 
gewonnen oder überhaupt geistig bevormundet 
werden. Ferner muß jeder Ausfall auf eine reli- 
giöse Überzeugung vermieden werden. Es gilt 
darum als zweckmäßig, religiöse Fragen vollstän- 
dig auszuscheiden. Diese zu erörtern, bleibt kon- 
fessionellen Vereinen vorbehalten, wie den Lehr- 
lings-, Gesellen-, Arbeiter-, Beamtenvereinen usw. 
Es gibt auch Gegenstände in Hülle und Fülle, 
die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit 
den religiösen und kirchlichen Fragen stehen. Auf- 
gabe der zur Pflege des religiösen Lebens be- 
rufenen Organe und Vereine bleibt es, die durch 
die heutigen Verhältnisse bedingte Lücke durch 
eine gesteigerte Bildung des Volks in religiösen 
Dingen auszufüllen und das Gleichgewicht zwi- 
schen profaner und religiöser Bildung wiederher- 
zustellen. 
Leider gibt es aber auch Bestrebungen auf dem 
Gebiet der Volksbildung, die sich in bewußten 
und gewollten Gegensatz zur Religion und ins- 
besondere zum katholischen Christentum stellen und 
von der ausdrücklichen oder stillschweigenden Vor- 
aussetzung ausgehen, die christliche Volksbildung 
sei nicht die wahre, sie müsse durch eine nichtchrist-
	        
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