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tischen Erörterungen über die Prinzipienfragen.
welche bei der Behandlung der praktischen Spezial-
fragen der neueren Wirtschafts= und Sozialpolitik,
auch der Finanz= und Steuerpolitik, aufgetaucht
sind". Das hebt Wagner selbst hervor und macht
außerdem folgende Bemerkungen, die zur Wür-
digung der Genesis des Systems durchaus beachtens-
wert sind (Gr. 18 62): „Die berühmte kaiserl Bot-
schaft vom 17. Nov. 1881 hat auch hier als Fer-
ment gewirkt. Namentlich die Fragen der Arbeiter-
organisation, der Arbeiterversicherung, des Arbeiter-
schutzes, die Spezialfrage des Versicherungszwangs,
der Staatsbeiträge zur Arbeiterversicherung, ferner
die Frage der Verstaatlichung der Eisenbahnen,
der Tarifpolitik dabei, der finanziellen Behandlung
der Bahnen, auch die sozialpolitische Seite der Frage
von Freihandel und Schutzzoll (Agrarzölle) u. a.
haben vielfach den Anlaß zu neuen und tieferen
prinzipiellen Erörterungen über das Verhältnis
von Individuum und Gemeinschaft, über die Be-
rechtigung der Staatshilfe in wirtschaftlichen Ver-
hältnissen, über die Fragen der Staatstätigkeit
gegeben.“ In diesem Zusammenhang verdient Er-
wähnung Wasserrab, Preise und Krisen (1889),
wo das Problem der Neuordnung des modernen
Wirtschaftslebens bei tiesgehender Kenntnis des
praktischen kaufmännischen und großindustriellen
Lebens mit großem Weilblick behandelt wird.
Über die gegnerische Literatur äußert sich Wagner
in der Tübinger Zeitschrift für die ges. Staats-
wissenschaft 1887, 678 ff u. in einem kritischen
Ülberblick (Gr. 13 62/63); „Vornehmlich die Gegner,
Freihändler, Ultramontane (1), haben versucht, den
S. zu systematisieren, um ihn besser angreifen zu
können, aber sie machen eine Karikatur oder einen
Popanz aus ihm.“ Dies gilt z. B. von der Streit-
schrift der drei Freihändler Bamberger, Barth,
Brömel „Gegen den Staatssozialismus“ (1884, aus
der Sammlung volkswirtschaftl. Zeitfragen, hrsg.
von der Berliner volkswirtschaftl. Gesellschaft), von
Bambergers Artilel Socialisme d’Etat, im Nou-
veau dictionnaire d’économie politique (1891);
von der Schrift L. Says, Le socialisme d’Etat.
(Par. 1884); von der ultramontanen (1) Schrift
Wilh Maiers, Der S. u. die persönliche Freiheit
(1#4); von dem Pamphlet S. Emeles, Der So-
zialismus, Rodbertus-Jagetzow, das Manchester-
tum u. der Staatssozialismus (1885).
In andern Arbeiten wird der S. zu weit ge-
faßt, die neuere deutsche Wirtschafts- u. Sozial-
politil, der Kathedersozialismus zu sehr mit ihm
identifiziert, so von M. Ströll, Die staatssozia-
listische Bewegung in Deutschland (1885); auch
die verdienstvollen Arbeiten des Engländers Dawson
leiden an diesem Fehler, so die Schrift Bismarck
an# State socialism (Lond. 1890); Karl Umpfen-
bach, Altersversorgung u. S. (1883) bleibt un.
klar. Agl ferner den Abschnit! „Finanzwissen-
schaft u. S.“ in Steins Finanzwissenschaft 12
148.160. Aus der englischen Literatur: Aufssatz von
Rae, State sorinlism. in der Contempor. Review,
Aug.—Sept. 188“, Schriften von Spencer. Aus
der französischen Literatur A. Andler, Origine du
Boc. d’Etat en Allemagne (18607).
l[Ludwig Nieder.]
Staatsstreich s. Notrecht.
Staatsverfassung. 1. Begriff (Kon-
stuutionelle Verfassung; Verfassung im materiellen
Staatsstreich — Staatsverfassung.
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Sinn, Verfassungsurkunde). Ganz allgemein be-
deutet Verfassung die Art der Organisation der
Staatsgewalt; insbesondere die Art der Bildung
und Zuständigkeit der obersten Staatsorgane. Ge-
wöhnlich aber versteht man unter Verfassung eine
solche Organisation der Staatsgewalt, bei der dem
Volk eine Beteiligung an der Gesetzgebung und eine
Kontrolle der Verwaltung zusteht. Mit einem ge-
wissen Pleonasmus nenntman diese Verfassungauch
„konstitutionelle“ Verfassung. Im engsten Sinn
bezeichnet Verfassung die Kodifikation der konsti-
tutionellen Verfassungsrechtssätze, die Verfassungs=
urkunde. Zur Unterscheidung pflegt man letztere
wohl auch Verfassung im formellen Sinn, die
Verfassungsrechtssätze auch Verfassung im mate-
riellen Sinn zu nennen.
2. Bedeutung der Verfassung imma-
teriellen Sinn. Aufgabe und Zweck der Ver-
fassung ist, mit einem Schlagwort ausgedrückt,
Sicherung der persönlichen und bürgerlichen Frei-
heit, und zugleich soll die Verfassung das be-
rechtigte Streben eines Volks nach einer Be-
teiligung an der Bestimmung seiner Geschicke
befriedigen.
Zunächst also erscheint die Verfassung als eines
der wirksamsten Mittel zur Durchführung und
Festigung des Rechtsstaats, der Rechtsschranken
zwischen sich und dem Individuum setzt und an-
erkennt; und gewiß kann der Rechtsstaat in seiner
vollendeten Form ohne verfassungsmäßige Ga-
rantien nicht verwirklicht werden. Aber auf der
andern Seite darf man die Verfassungsschranken
im Sinn einer Bindung der obersten Staats-
organe in ihrer Bedeutung für die rechtliche Frei-
heit der Staatsbürger nicht überschätzen; noch viel
mehr gilt dies von bloßen Erklärungen und
Deklarationen allgemeinen Inhalts. Die Bin-
dung der obersten Staatsorgane ist noch nicht aus-
reichende Verfassungsgarantie überhaupt. Sehr
gut hebt dies neuestens R. Schmidt hervor (All-
gemeine Staatslehre II 883, 2. TII1903): „Die
verfassungsmäßige Sicherheit der Individuen
hängt in erster Linie von dem Ausbau der Kon-
trolle der Bürger und Behörden, mit andern
Worten von den Einrichtungen und Formen der
Rechtspflege ab. Sie sind mindestens unentbehr-
lich, um die Garantie in der oberen Leitung des
Staats, die für sich unzulänglich ist, zu ergänzen;
sie sind aber häufig nötig, um im Fall des
Mangels oder des Versagens für sie einen Ersatz
zu schaffen.“ Es sei ein Versäumnis der staats-
rechtlichen-politischen Theorie, daß „sie das Ver-
hältnis der Rechtspflegebehörden zum Volk über-
haupt noch gar nicht in eine feste Gedanken-
beziehung zu den organisatorischen Fragen der
oberen Staatsleilung gebracht habe“. Die Justiz,
sowohl Zivil= wie Strafrechtspflege, insbesondere
aber auch die Rechtskontrolle über die amtlichen
Handlungen der Staatsbehörden oder die Ver-
waltungsrechtspflege sind die „stärkste Formal-
garantie der Verfassung“ (ebd. 886).