905
Mit dieser „Dienstmädchenbibliothek“ wird die
„Hausbücherei“ manch kleinen Handwerkers und
Arbeiters viel Ahnlichkeit haben (Apel S. 107).
Niedrige Erotik und Aberglaube werden meist
das Thema bilden. Gerichtsverhandlungen und
Umfragen in Gefängnissen haben das Resultat
zutage gefördert, daß die Verbrecher meist durch
das Lesen schlechter Romane auf Abwege gebracht
werden.
Um der durch die Kolportage und Leihbibliotheken
verbreiteten Hintertreppenliteratur entgegenzuar-
beiten, bedarf es der Volksbibliotheken, in denen
die Entnahme von Büchern durch keinen schwer-
fälligen bureaukratischen Apparat gehindert ist.
Bei der herrschenden Wohnungsnot der unteren
Stände bietet jedoch das eigne Heim vielfach dem
Arbeiter keinen entsprechenden Naum, um der
Lektüre zu pflegen. Daher sind luftige, gut be-
leuchtete und geheizte, bequem eingerichtete öffent-
liche Lesehallen ein dringendes Bedürfnis. Hier
wird neben einer Handbibliothek hauptsächlich für
Zeitschriften und Zeitungen gesorgt werden müssen.
Über ihre technische Ausstattung gibt Huppert
(Offentliche Lesehallen, ihre Aufgabe, Geschichte
und Einrichtung) beachtenswerte Winke. Freilich
sind dazu bedeutende Mittel erforderlich; bisher
haben aber Staat und Gemeinde nach dieser Rich-
tung ihre sozialpolitische Pflicht nur in geringem
Umfang realisiert. Einzelne Städte, wie Köln,
besitzen musterhaft eingerichtete Lesehallen, mit
denen Volksbibliotheken verbunden sind. Durch die
Munifizenz der Familie Rothschild besitzt Frank-
furt a. M. eine Volksbibliothek großen Stils
mit prächtigem Lesesaal (Reyer S. 211 ff). Aber
auch die Kreise, für welche diese Einrichtungen ge-
schaffen werden, haben denselben noch keineswegs
das volle Verständnis entgegengebracht. Die Apa-
thie kann nur durch zähe, unverdrossene Arbeit
überwunden werden. Freilich wird man immer
damit rechnen müssen, daß der Prozentsatz der
Arbeiter, welche, wenn sie abends ermüdet nach
Hause kommen, noch zum Lesen eines guten Buchs
aufgelegt sind, kein allzu großer ist. Doch steckt
nach dem Urteil aller Sachverständigen ein ge-
waltiger Bildungsdrang im Volk, und die intelli-
genten Arbeiter wissen den Wert, auch den wirt-
schaftlichen, der Bildung vollauf zu schätzen. Lese-
hallen sind auch ein vortreffliches Mittel, Leuten,
die zu Hause nicht lesen können, eine gemütliche
Stätte zu bieten und andere von der Straße und
aus dem Wirtshaus fernzuhalten (vgl. Huppert,
Offentliche Lesehallen (/1899)).
Aber damit ist noch nicht alles geschehen, um
die Gefahr der schlechten Lektüre zu paralysieren.
Die Kolportage wirft die Erzeugnisse gewissenloser
Skribenten dem Volk ins Haus, erspart ihm den
Gang zum Buchhändler und zur Bibliothek. Aber
es fragt sich, ob es denn gerade jene gewissenlose
Kolportage sein muß, die unser Volk mitschlechter,
sittenverderblicher und obendrein viel zu teurer
Schundware überschüttet? Vielleicht gilt hier der
Volksbildung.
906
Grundsatz, vom Gegner zu lernen und den Feind
mit seinen eignen Waffen zu schlagen (Apel S. 70).
Aus diesen Erwägungen heraus entstanden seit
der Preßfreiheit eine Reihe von Kolportageunter-
nehmungen, vielfach aufchristlich-kirchlicher Grund-
lage. Dieselben sind teils von Kolportage= und
Schriftenvereinen teils von der innern Mission
teils auch von Verlegern ins Werk gesetzt. Die
Charitas — denn um charitative Bestrebungen
handelt es sich zumeist — ist erfinderisch, um die
entsprechenden Mittel und Wege zu finden. „Die
Berliner Stadtmission versieht durch einen Stadt-
missionar und eine dazu angestellte Hilfskraft, die
je sieben freiwillige Helfer hinter sich haben, wö-
chentlich 2500 Hotelbedienstete in sämtlichen
größeren Berliner Hotels und etwa die gleiche An-
zahl Restaurantbedienstete mit gedruckten Predig-
ten, die ihnen den fehlenden Gottesdienst ersetzen
sollen. Die Mitglieder des Christlichen Vereins
junger Männer in Berlin verrichten den gleichen
Dienst an andern Sonntagslosen: Droschken-
kutschern, Feuerwehrleuten, Polizisten, Pferde-
bahnbeamten, Postbeamten usw. Ahnlich wirken
an andern Orten die Vereine für innere Mission
durch freiwillige Helfer. Diese freiwillige Hilfe ist
es, die zur Verteilung populärer Flugschriften,
überhaupt zur Verbreitung guten Lesestoffs in viel
reicherem Maß in Anspruch genommen und geübt
werden sollte (Apel S. 104). Besondere Kol-
portagevereine sind protestantischerseits der Nas-
sauische, 1863 gegründet, und der Christliche
Kolportageverein mit dem Sitz zu Gernsbach in
Baden. Ferner betreibt auch der Calwer Verlags-
verein, der im Jahr 1833 zu dem Zweck gegründet
wurde, christliche (evangelische) Bücher zu mäßigen
Preisen herauszugeben, seit dem Jahr 1878 die
Kolportage guter Schriften mit der Tendenz christ-
licher Volksbildung. Auf katholischer Seite hat
man erst spät mit der eigentlichen Kolportage be-
gonnen. In Nürnberg haben die katholischen
Vereine dieselbe systematisch organisiert. Auch in
Stuttgart, Köln, München-Gladbach, Essen usw.
hat man Kolportagen eingerichtet. (Vgl. Huppert
in den Borromäusblättern über Geschichte und
Einrichtung der Kolportage; Katholische Kol-
portage in den Sozialen Tagesfragen, heraus-
gegeben vom Volksverein für das katholische
Deutschland).
Ein ähnliches Ziel verfolgt der katholische Ver-
ein vom hl. Karl Borromäus, gegründet
20. März 1844. Er sucht die Verbreitung guter
Bücher dadurch zu fördern, daß er 1) jährlich
allen Vereinsangehörigen nach Maßgabe ihres
Beitrags und der Vereinsmittel eine oder mehrere
Schriften als Vereinsgabe unentgeltlich zugehen
läßt; 2) ein Verzeichnis seinem Zweck entsprechen-
der Schriften beifügt, deren Anschaffung er allen
Vereinsangehörigen durch Erwirkung möglichst
niedriger Preise zu erleichtern sich bemüht; 3) aus
den jährlichen Uberschüssen Bibliotheken errichtet
und unterstützt, zu deren Benutzung die betreffen-