909
Erfahrung zeigt, daß das Volk für die an das
Gemüt sich wendende Unterhaltung mehr Empfäng-
lichkeit besitzt als für die mancherlei Arten der
Belehrung. Nicht mit Unrecht bezeichnet Bier-
mer (S. 532) die sog. Volksunterhaltungsabende
als sestliche Veranstaltungen, die den Schwer-
punkt auf die Darbietung musikalischer und dekla-
matorischer Gaben legen. Es sollen für den Ar-
beiter wahre Festtage sein, die das Einerlei der
Arbeit durchbrechen. Uber die Notwendigkeit ge-
sunder Volksunterhaltung kann kein Zweifel be-
stehen. Arbeitskraft und -freudigkeit werden erhöht,
Freude und Zufriedenheit beseelen den Arbeiter,
während anderseits schwere sittliche und soziale
Gefahren drohen, wo das Volk keine Gelegenheit
zu gesunder herzerhebender Unterhaltung hat.
Was wir heute künstlich zu veranstalten suchen,
entwickelte sich im Mittelalter spontan in den alle
Stände vereinigenden Volksfesten (vgl. Hagel-
stange, Süddeutsches Bauernleben im Mittelalter
118981 221 ff). Die heutige Volksunterhaltung
ist entweder durch Alkoholismus (s. oben) oder
durch niedrige Sinnlichkeit vergistet. Der Tingel-
tangel, das Spezialitätentheater ist alles andere
als ein ästhetischer Genuß (vogl. Bäcker, Die Volks-
unterhaltung 13). Freilich ist auch nicht alles,
was den oberen Klassen Unterhaltung verschafft,
rein ästhetischer Genuß.
Die Volksunterhaltung ist schon sozialpolitisch
ein wichtiges Gebiet. „Unter den Cäsaren und in
der guten alten Zeit galt es schon als eine diplo-
matische Maxime: Unterhalte das Volk, so tut
es gut“ (Reyer S. 58). Aber es gibt einen
idealeren Standpunkt als diese nüchterne Maxime
des Polizeistaats. Wenn man berechtigt ist, von
einem Bildungshunger des Volks zu sprechen (Fuchs
S. 114), so gilt dies im besondern von einem großen
Fonds an Idealismus zur Entgegennahme von
Werken der Kunst. Wo man Versuche gemacht
hat, an solchen Volksunterhaltungsabenden erst-
klassige Werke der Kunst zur Aufführung zu
bringen, war man überrascht von der andächtigen
Hingabe, mit der die Menge dem Gebotenen
lauschte, und von der echten Begeisterung, mit der
sie den mitwirkenden Künstlern dankte. Hervor-
ragende Künstler gestehen, daß sie darin den schön-
sten Lohn ihrer Mühe erblicken.
Man hat schon den Gedanken erwogen, für die
Zwecke der Volksunterhaltung eigne Theater zu
erbauen; es ist jedoch darauf hinzuarbeiten, daß
die schon vorhandenen Theater, Konzertsäle usw.
gegen billige Entschädigung für Beheizung und Be-
leuchtung zur Verfügung gestellt werden. Staat-
liche und städtische durch kommunale Zuschüsse
unterstützte Theater haben in dieser Beziehung ein
reiches Feld der Wirksamkeit; sie erleiden trotz
der niedrig anzusetzenden Eintrittsgelder keinen
Schaden, können vielmehr zu Zeiten, in denen
sonst der Theaterbesuch sehr schwach ist, eine
Steigerung der Einnahmen und ein gefülltes
Haus erzielen.
Volksbildung.
910
Zu verlangen ist natürlich auch hier, daß die
Volksunterhaltung nicht zu Parteizwecken aus-
genützt werde, eine Gefahr, welcher die in Berlin
1890 gegründete sozialdemokratische „Freie Volks-
bühne“ nicht ganz entgangen ist; es wurde das
moderne naturalistische Drama mit einer gewissen
tendenziösen Einseitigkeit gepflegt (Bäcker S. 45 ff).
Mit Recht wird auch von sonst freisinniger Seite
verlangt, daß diese Aufführungen eine ethische
Richtung beherrschen muß. Possen und Ehebruch-
dramen sind auszuschließen. ÜUberhaupt soll das
Volk nicht in den Kampf der Kunstrichtungen
hineingezerrt werden. Die Idee, besondere Ar-
beitervorstellungen zu veranstalten, kam durch die
Schrift des Nationalökonomen Georg Adler: „Die
Sozialreform und das Theater“, erstmals 1890
erschienen, in Fluß.
Neben der dramatischen Kunst, die ja in ihrem
eignen Interesse vor allen Künsten in der Volks-
seele wurzeln muß, ist es besonders die Musik, die
in ihren hervorragendsten Werken dem Volk zu-
gänglich gemacht werden soll. Zum besseren Ver-
ständnis werden auch kurze Erläuterungen über die
Bedeutung und Eigenarten des Komponisten usw.
damit zu verbinden sein. Die Erfahrungen be-
stätigen es, daß die niederen Schichten nicht bloß
für leichtere Musik und Volkslieder, sondern auch
für ernste, großartige Tonschöpfungen genugsam
empfänglich sind. Bloßes Virtuosentum oder die
bloß sinnlich prickelnde Musik mancher Operetten
soll dagegen verbannt sein. Über den sozialen
Wert echt künstlerischer musikalischer Aufführungen
bemerkt ein Sachverständiger: „In solchen Stun-
den, wo Beethoven oder Händel zu ihm sprechen,
mag dem Volk der Arbeiter die Ahnung aufgehen,
daß es eine Macht und einen Besitz gibt, die man
nicht in Zahlen oder Quadratmeilen abschätzen,
und eine Arbeit, die man nicht mit der Elle messen
oder nach Arbeitsstunden bezahlen kann, die um
ihrer selbst willen getan wird, mag sie Hunger-
löhne einbringen, wie dem armen Mozart, oder
Reichtümer, wie Richard Wagner, daß es eine
Internationale gibt, der wir alle kraft unserer
menschlichen Geburt gleichmäßig angehören, die
Gemeinschaft edler Empfindungen, ausgedrückt in
einer allen Nationen verständlichen Sprache, daß
es endlich ein Glück gibt, das man nicht zu er-
jagen braucht in dem furchtbaren Kampf ums
Dasein, in welchem es zuletzt doch immer wieder
dem Zugreifenden entflieht“ (Stumpf, Auffüh-
rungen klassischer Musikwerke für den Arbeiter-
stand 97).
Auch die Rezitation von poetischen Werken,
Leseabende oder sonstwelche Arten edler Unter-
haltung werden der sozialen Aussöhnung dienen.
Es braucht nicht einmal jedesmal die Form der
Volksunterhaltungsabende gewählt zu werden,
wie sie seit den 1880er Jahren vor allem durch
die Bemühungen des Volkswirts Viktor Böh-
mert fast in allen größeren deutschen Städten
Wurzel gefaßt haben. Auch in kleineren Kreisen