Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Erfahrung zeigt, daß das Volk für die an das 
Gemüt sich wendende Unterhaltung mehr Empfäng- 
lichkeit besitzt als für die mancherlei Arten der 
Belehrung. Nicht mit Unrecht bezeichnet Bier- 
mer (S. 532) die sog. Volksunterhaltungsabende 
als sestliche Veranstaltungen, die den Schwer- 
punkt auf die Darbietung musikalischer und dekla- 
matorischer Gaben legen. Es sollen für den Ar- 
beiter wahre Festtage sein, die das Einerlei der 
Arbeit durchbrechen. Uber die Notwendigkeit ge- 
sunder Volksunterhaltung kann kein Zweifel be- 
stehen. Arbeitskraft und -freudigkeit werden erhöht, 
Freude und Zufriedenheit beseelen den Arbeiter, 
während anderseits schwere sittliche und soziale 
Gefahren drohen, wo das Volk keine Gelegenheit 
zu gesunder herzerhebender Unterhaltung hat. 
Was wir heute künstlich zu veranstalten suchen, 
entwickelte sich im Mittelalter spontan in den alle 
Stände vereinigenden Volksfesten (vgl. Hagel- 
stange, Süddeutsches Bauernleben im Mittelalter 
118981 221 ff). Die heutige Volksunterhaltung 
ist entweder durch Alkoholismus (s. oben) oder 
durch niedrige Sinnlichkeit vergistet. Der Tingel- 
tangel, das Spezialitätentheater ist alles andere 
als ein ästhetischer Genuß (vogl. Bäcker, Die Volks- 
unterhaltung 13). Freilich ist auch nicht alles, 
was den oberen Klassen Unterhaltung verschafft, 
rein ästhetischer Genuß. 
Die Volksunterhaltung ist schon sozialpolitisch 
ein wichtiges Gebiet. „Unter den Cäsaren und in 
der guten alten Zeit galt es schon als eine diplo- 
matische Maxime: Unterhalte das Volk, so tut 
es gut“ (Reyer S. 58). Aber es gibt einen 
idealeren Standpunkt als diese nüchterne Maxime 
des Polizeistaats. Wenn man berechtigt ist, von 
einem Bildungshunger des Volks zu sprechen (Fuchs 
S. 114), so gilt dies im besondern von einem großen 
Fonds an Idealismus zur Entgegennahme von 
Werken der Kunst. Wo man Versuche gemacht 
hat, an solchen Volksunterhaltungsabenden erst- 
klassige Werke der Kunst zur Aufführung zu 
bringen, war man überrascht von der andächtigen 
Hingabe, mit der die Menge dem Gebotenen 
lauschte, und von der echten Begeisterung, mit der 
sie den mitwirkenden Künstlern dankte. Hervor- 
ragende Künstler gestehen, daß sie darin den schön- 
sten Lohn ihrer Mühe erblicken. 
Man hat schon den Gedanken erwogen, für die 
Zwecke der Volksunterhaltung eigne Theater zu 
erbauen; es ist jedoch darauf hinzuarbeiten, daß 
die schon vorhandenen Theater, Konzertsäle usw. 
gegen billige Entschädigung für Beheizung und Be- 
leuchtung zur Verfügung gestellt werden. Staat- 
liche und städtische durch kommunale Zuschüsse 
unterstützte Theater haben in dieser Beziehung ein 
reiches Feld der Wirksamkeit; sie erleiden trotz 
der niedrig anzusetzenden Eintrittsgelder keinen 
Schaden, können vielmehr zu Zeiten, in denen 
sonst der Theaterbesuch sehr schwach ist, eine 
Steigerung der Einnahmen und ein gefülltes 
Haus erzielen. 
Volksbildung. 
  
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Zu verlangen ist natürlich auch hier, daß die 
Volksunterhaltung nicht zu Parteizwecken aus- 
genützt werde, eine Gefahr, welcher die in Berlin 
1890 gegründete sozialdemokratische „Freie Volks- 
bühne“ nicht ganz entgangen ist; es wurde das 
moderne naturalistische Drama mit einer gewissen 
tendenziösen Einseitigkeit gepflegt (Bäcker S. 45 ff). 
Mit Recht wird auch von sonst freisinniger Seite 
verlangt, daß diese Aufführungen eine ethische 
Richtung beherrschen muß. Possen und Ehebruch- 
dramen sind auszuschließen. ÜUberhaupt soll das 
Volk nicht in den Kampf der Kunstrichtungen 
hineingezerrt werden. Die Idee, besondere Ar- 
beitervorstellungen zu veranstalten, kam durch die 
Schrift des Nationalökonomen Georg Adler: „Die 
Sozialreform und das Theater“, erstmals 1890 
erschienen, in Fluß. 
Neben der dramatischen Kunst, die ja in ihrem 
eignen Interesse vor allen Künsten in der Volks- 
seele wurzeln muß, ist es besonders die Musik, die 
in ihren hervorragendsten Werken dem Volk zu- 
gänglich gemacht werden soll. Zum besseren Ver- 
ständnis werden auch kurze Erläuterungen über die 
Bedeutung und Eigenarten des Komponisten usw. 
damit zu verbinden sein. Die Erfahrungen be- 
stätigen es, daß die niederen Schichten nicht bloß 
für leichtere Musik und Volkslieder, sondern auch 
für ernste, großartige Tonschöpfungen genugsam 
empfänglich sind. Bloßes Virtuosentum oder die 
bloß sinnlich prickelnde Musik mancher Operetten 
soll dagegen verbannt sein. Über den sozialen 
Wert echt künstlerischer musikalischer Aufführungen 
bemerkt ein Sachverständiger: „In solchen Stun- 
den, wo Beethoven oder Händel zu ihm sprechen, 
mag dem Volk der Arbeiter die Ahnung aufgehen, 
daß es eine Macht und einen Besitz gibt, die man 
nicht in Zahlen oder Quadratmeilen abschätzen, 
und eine Arbeit, die man nicht mit der Elle messen 
oder nach Arbeitsstunden bezahlen kann, die um 
ihrer selbst willen getan wird, mag sie Hunger- 
löhne einbringen, wie dem armen Mozart, oder 
Reichtümer, wie Richard Wagner, daß es eine 
Internationale gibt, der wir alle kraft unserer 
menschlichen Geburt gleichmäßig angehören, die 
Gemeinschaft edler Empfindungen, ausgedrückt in 
einer allen Nationen verständlichen Sprache, daß 
es endlich ein Glück gibt, das man nicht zu er- 
jagen braucht in dem furchtbaren Kampf ums 
Dasein, in welchem es zuletzt doch immer wieder 
dem Zugreifenden entflieht“ (Stumpf, Auffüh- 
rungen klassischer Musikwerke für den Arbeiter- 
stand 97). 
Auch die Rezitation von poetischen Werken, 
Leseabende oder sonstwelche Arten edler Unter- 
haltung werden der sozialen Aussöhnung dienen. 
Es braucht nicht einmal jedesmal die Form der 
Volksunterhaltungsabende gewählt zu werden, 
wie sie seit den 1880er Jahren vor allem durch 
die Bemühungen des Volkswirts Viktor Böh- 
mert fast in allen größeren deutschen Städten 
Wurzel gefaßt haben. Auch in kleineren Kreisen
	        
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