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höhtem Grad an der geistigen Kultur teilnehmen
zu lassen. Es ist nicht bloß die rein leibliche
Besserung des standard of life, sondern es ist im
letzten Grund ein geistigeres Dasein, auf welches
die Kämpfe des vierten Standes abzielen. Wohl
mag vielfach der materielle Kampf, der „Kampf
um den Futterplatz“ (Sombart) dieses Ziel ver-
decken, aber schon dieser setzt, wenn er zielbewußt
und ohne rohe Gewalt geführt wird, einen ge-
wissen Grad der Intelligenz, ein Verständnis für
die Aufgaben und Bedürfnisse des Staats voraus,
in dem die Forderungen und Interessen aller
Klassen ihren Ausgleich finden müssen.
Daher sehen wir zugleich mit diesen sozialen
Regungen, in denen die Arbeitermassen aus stumpfer
Resignation erwachen und sich als Klasse bewußt
werden, die Volksbildungsbestrebungen einsetzen.
Reichen die Bemühungen, den niederen Schichten
besseren Lesestoff zuzuführen, in Deutschland bis
in die Mitte des 19. Jahrh. zurück, wo einzelne
Vereine für Verbreitung guter Bücher ins Leben
gerufen wurden, so wurde 1871 die sich über ganz
Deutschland erstreckende Gesellschaft für Verbrei-
tung von Volksbildung zu Berlin gegründet, die
alle Bestrebungen der volkstümlichen Bildungs-
arbeit in sich vereinigt. Sie läßt sich die Verbrei-
tung von Volksbibliotheken und Veranstaltung
von Einzelvorträgen angelegen sein, während die
Humboldt-Akademie und andere Organisationen
die Einrichtung von Unterrichtskursen auf ihr Pro-
gramm setzten. Wie schon bemerkt, hatten alle
derartigen Bestrebungen infolge der Zurückhaltung
der Gelehrtenwelt keine nennenswerten Erfolge.
Und es ist wieder für den Zusammenhang dieser
Bewegung mit der allgemein wirtschaftlichen und
sozialen Entwicklung charakteristisch, daß die Na-
tionalökonomen sie zuerst auch in der Gelehrten-
welt in Fluß brachten.
Da eine genaue Statistik des gesamten Volks-
bildungswesens hier zu geben unmöglich ist, sei
auf die statistischen Angaben verwiesen, wie sie
Biermer (S. 522 f) gibt. Für näheres Detail
über Entwicklung der Volksbibliotheken, über die
Ziffern der Bücherentlehnungen, Zahlen der Teil-
nehmer an den Unterrichtskursen usw. sei besonders
auf Reyers Handbuch des Volksbildungswesens
sowie auf das mehrfach angezogene Referat des
Nationalökonomen Fuchs verwiesen. Nur darf
man auf die Zahlen über den Besuch der Vorträge,
Volkskurse usw. nicht allzu optimistische Hoff-
nungen setzen.
Ein Sachverständiger spricht von einer trau-
rigen Erfahrung, welche sich in den Volksbildungs-
bestrebungen aufdränge, daß bei den Vorträgen in
den Volksbildungsvereinen das eigentliche Volk,
das nur Volksschulunterricht genossen hat, oft nur
sehr spärlich vertreten ist; ferner müsse jedem Be-
sucher der Vortragsabende auffallen, daß er immer
wieder dieselben Gesichter sehe. Es seien dies die
besonders Wißbegierigen, die sich auch durch Bücher
selbst leicht fortbilden könnten, während die über-
Volksbildung.
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wiegende Masse des eigentlichen Volks kaum dem
Hören nach von den Volksbildungsbestrebungen
etwas wisse. Wo die Eintrittskarten nur in Ver-
sammlungen der Arbeitervereine und christlichen
Gewerkschaften abgegeben werden, hat man solche
Erfahrungen nicht gemacht. Dort nehmen viel-
mehr gerade diejenigen Schichten an den Ver-
anstaltungen teil, für die sie eigentlich geschaffen
sind.
Literatur. Über Bedeutung u. Einrichtung der
Volksbibliotheken, Denkschrift des sächs. Kultus-
ministeriums (1876); Biermer, V.svereine, im
Handwörterb. der Staatswissenschaften VII (21901)
524 ff; J. Tews, „Deutsche V.svereine“ u. „Volks-
bibliotheken“, in Reins Enzyklopäd. Handbuch der
Pädagogik (1899); ders., Freiwillige Bildungs-
arbeit in Deutschland (1896); Reyer, Entwicklung
u. Organisation der Volksbibliotheken (1903);
ders., Handbuch des V.swesens (1896); Volker,
Handbuch der deutschen V.sbestrebungen (1893);
Bäcker, Die Volksunterhaltung (1893); Roß, Of-
fentliche Bücher= u. Lesehallen (1897); Nörren-
berg, Die Bücherhallenbewegung (1898); E. Schultze,
Englische Volksbibliotheken (1898); derf., Freie
öffentliche Bibliotheken, Volksbibliotheken u. Lese-
hallen (1900); Aschrott, Volksbibliothek u. Lese-
halle, eine kommunale Veranstaltung (1896); Bon-
sort, Das Bibliothekswesen in den Vereinigten
Staaten (1896); Mannheimer, Die Bildungsfrage
als soziales Problem (1901); Ehrhard, Die Grund-
säcze der christlichen V. (1901); Kellen, Arbeiter-
bildungsvereine (1904); Böhmert, Entstehung der
Gesellschaft für Verbreitung von V. (1907); Fritz,
Das moderne V.swesen (1909); Herz, Der Weg des
Buchs ins Volk (1909); Zeitschriften: Zentralblatt
für V.wesen (seit 1901); Blätter für Volksbiblio-
theken u. Lesehallen, hrsg. von Liesegang (seit
1900); V Sarchiv, hrsg. von v. Erdberg (seit 1909);
die „Bücherwelt“ (seit 1903), hrsg. vom Borro-
mäusverein.
über „volkstümliche Kunst" s. Reich, Die bürger-
liche Kunst u. die besitzlosen Volksklassen (21894);
ders., Die Kunst u. das Volk (1899); Möhl, Kunst
u. soziale Bewegung (1901); v. d. Palten, Kunst
u. Proletariat (1901); Leo Berg, Gefesselte Kunst
(1901); Kindermann, Volkswirtschaft u. Kunst
(1903); Walter, Die Stellung der Kunst zu den soz.
Bewegungen der Gegenwart, in Wahrheit (1902)
33 f; Waentig, Wirtschaft u. Kunst (1909); Pie-
per, V.sbildungsbestrebungen, ihre Notwendigkeit
u. ihre Mittel; Otto Müller, V.Sabende; Katho-
lische Kolportage, in Soziale Tagesfragen, hrsg.
vom Volksverein für das kath. Deutschland. Sehr
wichtige Anregungen wurden auf der 21. General=
versammlung des Verbands Arbeiterwohl (1902)
gegeben, die in der Zeitschrift „Arbeiterwohl“,
Jahrg. 1902, Hft 8/9 veröffentlicht sind (auch se-
parat erschienen in den „Sozialen Tagesfragen des
Volksvereins für das kath. Deutschland“ unter dem
Tilel: „Die geistige Bildung des Arbeiterstands“);
Huppert, Offentliche Lesehallen, ihre Aufgabe, Ge-
schichte u. Einrichtung (1899). — Speziell Üüber die
Teilnahme des Geistlichen an den Bildungsbestre-
bungen s. Heimbucher, Die praktisch-soziale Tätig-
keit des Priesters (1902; § 5: Pflege der V. u.
Volksaufklärung S. 63 ff); Drammer, Bademekum
U für die Präsides der Jünglingsvereine (1902).