Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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erwartete man in Bezug auf Erziehungstätigkeit 
nicht viel, sonsi hätte man nicht Leuten, die zu 
nichts anderem zu gebrauchen waren, den Unter- 
richt übergeben können. Dieses geringe Erziehungs- 
pensum leistete die alte Schule fast unbewußt, von 
einer planmäßigen Schulerziehung kann absolut 
nicht die Rede sein. Die wirtschaftlichen Verhält- 
nisse der Gegenwart haben die Sachlage geändert, 
durch sie wurden die Ansprüche an die Schule stark 
gesteigert. Je mehr Maschinen aufgestellt wurden, 
desto mehr verlangte man von dem Arbeiter nicht 
allein rohe Kraft, sondern vielmehr Leistungen, 
bei denen Kopf und Hand tätig sein müssen. An- 
derseits begünstigte die Maschinenarbeit die Aus- 
dehnung der Betriebe: die kleinen Werkstätten 
gehen ein, Männer und Frauen wandern immer 
zahlreicher in die Fabriken, ein immer höherer 
Prozentsatz der Kinder entbehrt des elterlichen Ein- 
flusses während des größten Teils des Tages. 
Dazu kommteine materialistische Lebensauffassung, 
die in weiten Kreisen des Volks verbreitet ist und 
auf die Jugenderziehung einen verderblichen Ein- 
fluß ausübt. Sowohl auf dem Gebiet des Unter- 
richts als auf dem der Erziehung mußte also die 
Schule ihre Leistungen erhöhen. Es kann nicht 
geleugnet werden, und darin liegt das Berechtigte 
des oben angeführten Vorwurfs, daß die moderne 
Schule sich diesen erhöhten Anforderungen nicht 
ganz gewachsen gezeigt hat. Zunächst ist sie der nahe- 
liegenden Gefahr erlegen, den Unterricht auf Kosten 
der Erziehung zu fördern, da ja seine Erfolge 
leichter in die Augen fallen und einen in der 
Praxis bemerkbaren Nutzen gewähren. Aber auch 
auf rein intellektuellem Gebiet hat die Schule nicht 
die Resultate gezeitigt, die man von ihr erwartete. 
Die zahlreichen Klagen über die mangelhaften 
Kenntnisse der schulentlassenen Jugend sind nicht 
unberechtigt. Die oft geradezu erschreckenden Er- 
fahrungen mit Fortbildungsschülern verleihen 
ihnen Stütze. Aber das oft empfohlene Heilmittel, 
den Schulunterricht zu beschränken und einzelne 
Unterrichsgegenstände (Realien) vollständig aus- 
zuschließen, kann unmöglich zum Ziel führen. Im 
Gegenteil gilt es, die Leistungsfähigkeit der Schule 
zu erhöhen. Daß die Lehrerschaft sich dieser Not- 
wendigkeit bewußt ist, beweist das tiefgehende und 
weilverbreitete Streben der Lehrer nach besserer 
Vorbildung für ihren Beruf. 
In der letzten Zeit sind zahlreiche Versuche 
unternommen worden, der Schule eine Reihe 
neuer Aufgaben zuzuweisen. Man kann zwei 
Gruppen von Forderungen unterscheiden. Die 
einen verlangen eine bessere Vorbildung der 
Schüler für ihren künftigen Beruf, die andern 
wünschen Körperpflege, ja selbst vollständigen 
Unterhalt der Kinder durch die Schule. Die Schule 
muß diese Ansprüche in ihren Ubertreibungen zu- 
rückweisen. Sie ist eine allgemeine Bildungs- 
anstalt, die Fachausbildung ist nicht ihre Sache. 
  
Eine zu starke Betonung des Utilitätsprinzips 
Volksschulen. 
  
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zieherische Aufgabe zu lösen und einen auf das 
Ideale gerichteten Sinn zu erzeugen. Aber auch 
die eigentliche Körperpflege gehört nur in vernünf- 
tigen und den jeweiligen Verhältnissen angepaßten 
Grenzen in die Volksschule. Wohl wird die Schule 
alles vermeiden, was die Gesundheit der Schüler 
schädigen könnte, vielmehr im Gegenteil, soweit sie 
vermag, alles aufbieten, um das körperliche Wohl 
der Schüler zu fördern; so sind die vielfach ein- 
gerichteten Schulbäder je nach den Verhältnissen 
der Gemeinde für durchaus zweckmäßig zu er- 
achten; aber z. B. die Beköstigung und Bekleidung 
der Kinder geht doch weit über den Rahmen der 
Aufgaben der Schule hinaus; es müssen sich an- 
dere Mittel und Wege finden lassen, notleidenden 
Kindern die Befriedigung ihrer elementarsten Be- 
dürfnisse zu ermöglichen. 
2. Die öffentliche Stellung der Schule. Die 
Schule ist eine Hilfsanstalt der Familie, der Kirche 
und des Staats. Sie steht zu diesen drei Faktoren 
nicht in gleichem Verhältnis; die Tätigkeit der 
Familie ergänzt sie, die Kirche wird von ihr beie 
der Erziehung der Jugend unterstützt, für den 
Staat ist sie ein Werkzeug. Diese Stellung der 
Schule bedingt, daß alle drei Mächte auf die 
Schule einzuwirken suchen. Die Rechte der ein- 
zelnen Faktoren in jedem Fall gegeneinander ab- 
zuwägen, ist schwer, deshalb kam es in fast allen 
Ländern zu heftigen Kämpfen in Bezug auf die 
Gestaltung des Volksschulwesens. 
Als erster Faktor gelten die Eltern und deren 
Gesamtheit, die Gemeinden, und zwar ent- 
weder die sog. Hausvätergemeinden oder Schul- 
sozietäten, wie sie das Preußische Allgemeine Land- 
recht kennt, oder die politischen Gemeinden. Der 
Unterhalt der Schule ist fast überall Gemeinde- 
sache, ebenso die Reglung der äußern Schulange- 
legenheiten. In zahlreichen Fällen beruft die Ge- 
meinde auch die Lehrer. Meist ist sie dabei aber 
an die Genehmigung der staatlichen Behörden 
gebunden. Die Stellung der Gemeinde zur Schule 
ergibt sich aus der Tatsache, daß die Schule ihre 
Kinder erzieht. Aber es wäre bedenklich, wollte 
man die Volksschule den Gemeinden ausschließlich 
überlassen; von einer Einheitlichkeit der Schule 
könnte dann keine Rede sein, und manche höheren 
Aufgaben der Schulen blieben unberücksichtigt. 
Letztere Gefahr schwindet um so mehr, je größer 
das Gemeinwesen wird. Deshalb sind fast in 
allen Ländern den größeren Städten erhöhte 
Rechte in Bezug auf die Volksschulen eingeräumt, 
ihnen wird auch die innere Verwaltung der Volks- 
schule zum größten Teil überlassen. Fast überall 
aber behält sich der Staat die oberste Leitung 
des Schulwesens vor. Er tut dies auf Grund der 
modernen Staatsidee, welche ihm die Sorge für 
die Kultur des Volks auferlegt. Dazu kommt, 
daß der Staat an der Bildung des Volks ein 
unmittelbares Interesse hat. Besonders gilt das 
für die Staaten mit konstitutioneller Regierung, 
  
würde es der Schule unmöglich machen, ihre er- in denen das Volk Einfluß auf die Gesetzgebung
	        
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