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Schule eine Erziehungsanstalt ist, sie also den
Zweck hat, den Menschen seinem ihm gesetzten
Ziel zuzuführen, so kann vom christlichen Stand-
punkt aus das religiöse Moment nicht entbehrt
werden, ja es muß geradezu als das Fundament
der ganzen Erziehungsfrage betrachtet werden.
Der evangelische Professor Dr Glaser sagt mit
Recht in der „Enzyklopädie der Gesellschafts= und
Staatswissenschaften“ (S. 28): „Der Mittelpunkt
des ganzen geistigen Lebens ist die Religion. Sie
nähren und pflegen ist daher die erste und wich-
tigste Aufgabe der Bildung. Die Schule hört
ohne diesen Zweck auf, Bildungsanstalt zu sein,
und sinkt zur bloßen Dressuranstalt herab.“ Es
dürfen auch nicht nur die wenigen Stunden der
religiösen Unterweisung, sondern es muß der ge-
samte Unterricht im Dienst der religiösen Lebens-
auffassung stehen. Auch aus pädagogischen Grün-
den rechtfertigt sich diese Gestaltung der Volks-
schule. Jede Erziehungstätigkeit wird nur dann
fruchtbringend sein, wenn sie an die Individualität
des Kindes, sowohl die angeborne als die er-
worbene, anknüpft. Letztere aber wird durch die
Eindrücke der Umgebung gestaltet. Zu den Ele-
menten, welche das Volksleben beherrschen und
deren Einwirkung sich das Kind nicht entziehen
kann, gehört auch das Christentum in einer seiner
großen geschichtlichen Erscheinungsformen. Das
religiöse Bewußtsein ist durch die erste Erziehung
im Vaterhaus verstärkt worden. Würde die Schule
auf diese Verhältnisse keine Rücksicht nehmen, so
würde sie sich in Widerspruch setzen mit dem Gesetz
der Individualität. Darum sind alle Versuche,
das christliche Erziehungsideal durch das der sog.
natürlichen Religion zu ersetzen oder wenigstens
der konkreten Bestimmtheit zu entkleiden, die es in
seiner konfessionellen Ausprägung erfahren hat,
abgesehen von tieferen grundsätzlichen Bedenken,
so lange unannehmbar, als zu den Mächten,
welche die Individualität der Kinder von vorn-
herein gestalten, das Christentum in der Form
einer bestimmten Konfession gehört. Die Behaup-
tung, die Konfessionsschule begünstige den konfes-
sionellen Streit, ist unwahr. In jeder christlichen
Schule muß der Geist der Liebe und Duldung
herrschen. Sollte dies in irgend einer Konfes-
sionsschule nicht der Fall sein, so ist das ein Miß-
brauch, der gegen die Berechtigung der Einrichtung
an sich nichts beweist. Heinrich v. Treitschke sagt
in den „Vorlesungen über Politik“ (I 350); „Die
Erfahrung hat gezeigt, daß in Simultanschulen
der Unterricht nicht so gut erteilt wird wie in
konfessionellen Schulen; und daß gemischte Schulen
den religiösen Frieden fördern, ist zwar oft be-
hauptet worden, es ist aber das Gegenteil der
Wahrheit. Simultanschulen erregen den Reli-
gionshaß weit eher als konfessionelle.“
Werden in einer Schule die Kinder verschiedener
Konfessionen außer dem Religionsunterricht ge-
meinsam unterrichtet, so entsteht die Simultan-
oder paritätische Schule. Man kann nicht
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl.
Volksschulen.
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von Simultanschulen sprechen, wenn in der Dia-
spora einige andersgläubige Kinder am gemein-
samen Unterricht teilnehmen. Das preußische
Volksschulunterhaltungsgesetz vom 28. Juli 1906
sieht bei seiner Unterscheidung zwischen konfessio-
nellen und Simultanschulen unter Vermeidung
der ausdrücklichen Anwendung dieser Begriffe auf
die Konfession der Lehrer. So drückt es in § 33
den Grundsatz der konfessionellen Schule durch die
Worte aus: „Die öffentlichen Volksschulen sind
in der Regel so einzurichten, daß der Unterricht
evangelischen Kindern durch evangelische Lehrkräfte,
katholischen Kindern durch katholische Lehrkräfte
erteilt wird.“ Die Simultanschule bezeichnet es
in § 36 als „eine Volksschule, an der nach ihrer
besondern Verfassung gleichzeitig evangelische id
katholische Lehrkräfte anzustellen sind“. —
Charakter der konfessionellen Schule in dem Sim
dieses Gesetzes wird dadurch nicht verändert, daß
an der Schule einer bestimmten Konfession eine
Lehrkraft einer andern Konfession angestellt wird,
wenn dies geschieht, um den Religionsunterricht
an die Kinder dieser andern Konfession erteilen
zu lassen (§ 37, Abs. 3; § 39, Abs. 4). Pari-
tätische Schulen bestehen in Preußen hauptsächlich
in den Provinzen Posen und Westpreußen (ogl.
dazu Art. Polenfrage Bd IV, Sp. 186 fh sowie
in dem früheren Herzogtum Nassau, wo sie durch
das Schuledikt von 1817 gesetzlich festgelegt wur-
den. Im ganzen bestanden Simultanschulen in
Preußen 1896: 680, 1901: 803, 1906: 900;
die Zahl der Volksschulen in Preußen überhaupt
betrug 1896: 36 138, 1901: 36756, 1906:
37761. Ein reines Simultanschulensystem besitzt
das Großherzogtum Baden (vgl. Sp. 931 f), mit
geringen Einschränkungen auch das Großherzog-
tum Hessen (ogl. Sp. 932). Im Jahr 1910
waren in Hessen von 980 Volksschulen 920
simultan; 40 Schulen sind noch katholisch, 20 pro-
leftantisch. Interkonfessionell sind auch die staat-
lichen Volksschulen in Osterreich (vgl. Sp. 934 ff).
Wird in einer Schule für Kinder aller Kon-
fessionen ein gemeinsamer Religionsunterricht er-
teilt, so entsteht diekonfessionslose Schule.
Solche Schulen waren bei den Philanthropen
Mode; noch am Anfang des 19. Jahrh. konnte
man sie hie und da finden. Gegenwärtig sind sie
selten. Dagegen sind die religionslosen
Schulen eine traurige Errungenschaft der Neu-
zeit. In ihnen wird die Religion weder bei der
Erziehung noch beim Unterricht berücksichtigt. An
die Stelle der Religion tritt „allgemeine Ethik“,
in Frankreich z. B. Moral= und Bürgerlehre, in
Holland Erziehung zu den christlichen Tugenden.
Solche Schulen sind gesetzlich eingeführt in Frank-
reich, Italien, Holland; in Amerika sind sie nicht
selten, auch in den staatlichen Schulen Englands
darf im Unterricht der Religion nicht Erwähnung
geschehen.
Bezüglich der Trennung der Geschlechter
sind die Ansichten geteilt. In der Praxis unter-
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